Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.8  Die Anfänge des Basalgangliensystems im frühen Urhirn

Das Basalgangliensystem der Wirbeltiere besitzt eine überaus komplexe Struktur und setzt sich aus sehr vielen Substrukturen zusammen. Sie kann nicht als Ganzes einfach so entstanden sein, sondern muss sich - wie alle anderen Substrukturen des Wirbeltiergehirns - schrittweise herausgebildet haben.

Ein wichtiges Subsystem der Basalganglien ist die Substantia nigra pars compacta. Sie ist eines von mehreren Mittelwertsystemen der Eingangsetage des Urhirns der segmentierten Bilateria, deren Linien zu den Wirbeltieren führen. Dieses Mittelwertzentrum verwendet den Transmitter Dopamin. Es liegt ursprünglich etwa auf der Höhe des Nucleus ruber, welcher der Ausgangskern dieser Etage ist. Ebenso finden sich dort die Eingangskerne des Rumpfes, bei Wirbeltieren der Nucleus cuneatus und gracilis sowie weitere Mittelwertkerne. Wie alle diese Kerne ist auch die Substantia nigra pars compacta bilateral, also auf jeder Körperhälfte vorhanden. Mittelwertsysteme haben eine grundlegende Eigenschaft:

Theorem der Berücksichtigung aller Signale in Mittelwertsystemen

In Mittelwertsystemen müssen möglichst alle Signale des Systems erfasst werden, damit jedes von ihnen seinen Beitrag zum generierten Mittelwert leistet.

Wir postulieren hier, dass es in früher Urzeit genauso viele Neuronen der Klasse 5 gab wie Neuronen der Klasse 6. Zu jedem cortikalen Outputneuron der Klasse 5 gab es also genau ein Mittelwertneuron der Klasse 6, welches dessen Erregung übernahm und zu den Mittelwertzentren projizierte.

Im unteren Abschnitt der thalamischen Etage - dem zweiten Abschnitt jedes Strickleitersystems - entwickelte sich ein Mittelwertzentrum, aus dem der spätere Nucleus subthalamicus hervorging. Die in der sechsten Neuronenschicht der cortikalen Etage vorhandenen Mittelwertneuronen übernahmen ihre Erregung von den Outputneuronen der Klasse 5 und projizierten (auch) in diesen subthalamischen Mittelwertkern, der sich etwas unterhalb der thalamischen Kerne anordnete.

Theorem des Nucleus subthalamicus

Der Nucleus subthalamicus ist ein Mittelwertkern unterhalb der thalamischen Etage. Die cortikalen Mittelwertneuronen der Klasse 6 projizieren erregend in diesen Kern, der ein topologisches Mittelwertmodell der cortikalen Etage darstellt. Er projiziert erregend in den dopaminergen Mittelwertkern, so dass dieser ein Teilgebiet enthält, welches ebenfalls ein Mittelwertmodell der cortikalen Etage darstellt.

Erinnert werden sollte daran, dass im olfaktorischen Modalitätenbereich das Septum als Mittelwertkern bereits existierte. Ebenso existierte in der Ausgangsetage des Urhirns ein dopaminerger Mittelwertkern, die Substantia nigra pars compacta in der Nähe des Nucleus ruber. Er verwendete den Transmitter Dopamin. Anfangs bestanden diese Zentren sicherlich nur aus ganz wenigen Neuronen, aber sie waren für die weitere Entwicklung in Richtung der Wirbeltiere unbedingt erforderlich. Beide Kerne empfingen den Output des Cortex.

Theorem der Signalherkunft der Substantia nigra pars compacta

Die Substantia nigra pars compacta erhielt als Input den absteigenden, motorischen Output des frühen Urhirns. Sie war anfangs ein Modell der cortikalen Erregung.

Theorem der Signalherkunft des Nucleus subthalamicus

Der Nucleus subthalamicus erhielt als Input den absteigenden, motorischen Output des frühen Urhirns.

Damit empfingen sowohl die dopaminerge Substantia nigra pars compacta als auch der glutamaterge Nucleus subthalamicus den gleichen Input von den cortikalen Mittelwertneuronen. Zwischen den cortikalen Neuronen der Klasse 5 gab es eine laterale Nachbarhemmung, die von GABAergen Interneuronen realisiert wurde.

Diese drei Voraussetzungen reichten aus für die Herausbildung eines frühen Basalgangliensystems. Ursache war die Rückprojektion der Mittelwertzentren in die Herkunftsgebiete ihrer Signallieferanten.

Wir erinnern uns nun an eine wichtige Aufgabe von Mittelwertkernen. Jeder Mittelwertkern erzeugt primär ein Mittelwertsignal, welches der Steuerung der wichtigsten Lebensprozesse dient. Aber sekundär dient ein Mittelwertzentrum ebenso der Aktivierung seiner Signallieferanten. Daher gibt es (meist) eine erregende Rückprojektion vom Zentrum zu der Struktur, die den Input lieferte. Die Rückprojektion ist jedoch meist nur aktivierend, sie hebt die Erregungsschwelle an, ohne eigene Aktionspotentiale zu generieren.

Bei der Substantia nigra kam es im Verlauf der Evolution zur Vernachlässigung dieser Regel. Ab einer gewissen Entwicklungsstufe verselbständigte sich diese dopaminerge Rückprojektion und wurde spezifisch. Am Ende wurde jedes Inputsignal in der Substantia nigra pars compacta lediglich auf Dopamin umgeschaltet und mit der gleichen Feuerrate zurückgesendet, genau in Richtung der Herkunft.

Theorem der dopaminergen Rückprojektion im Basalgangliensystem

Im Basalgangliensystem wird jedes Inputsignal, welches die Substantia nigra pars compacta erreicht, einem dopaminergen Projektionsneuron übergeben, welches es unter Beibehaltung seiner Feuerrate in Richtung seiner ursprünglichen Herkunft zurückprojiziert.

Die dopaminergen Axone der Neuronen der Substantia nigra pars compacta waren nur sehr schwach oder gar nicht myelinisiert, und ihre Länge war - je nach Körpergröße des Lebewesens - teils recht beträchtlich. Daher brauchte jedes Aktionspotential auf ihnen eine gewisse Zeit, bis es am Ziel ankam. Dadurch wurde diesen Signalen eine Zeitverzögerung aufgeprägt. Die Substantia nigra war somit ein Verzögerungskern.

Theorem der Substantia nigra pars compacta

Die Substantia nigra pars compacta ist ein Verzögerungskern und ein Umschaltkern. Die Inputsignale aus dem Cortex werden von ihr auf Dopamin umgeschaltet und in Richtung Cortex zurückgeschickt, auf diesem Weg erleiden sie eine Zeitverzögerung im Kurzzeitbereich.

Im Cortex wirkte die dopaminerge Rückprojektion erregend auf die Neuronen der Klasse 1, die sie empfingen und damit die cortikalen Neuronen in der Umgebung aktivierten. So erhöhte die Erregung des Mittelwertzentrums die Ansprechschwelle der cortikalen Neuronen.

Zwischen den cortikalen Neuronen der Klasse 5 gab es eine Konkurrenz. Jedes von ihnen besaß ein eigenes, hemmendes Interneuron, mit dem es erregend gekoppelt war. Dieses bezeichnen wir hier als das zugeordnete Hemmungsneuron. Dieses besaß einen größeren Axonbaum und kontaktierte synaptisch die benachbarten Outputneuronen der Klasse 5, um sie (relativ) zu hemmen. Dies entsprach einer lateralen Hemmung und diente der Kontrastverstärkung zwischen den Outputsignalen der Neuronenklasse 5. Diese laterale Nachbarhemmung gab es von Anfang an und sie blieb erhalten, als es zur Auffaltung der Modalitätenschleifen kam und die Parietal-, Temporal- und Okzipitalschleife entstanden. In jeder von ihnen gab es die laterale Hemmung durch GABAerge Interneuronen und eine aktivierende Rückprojektion aus dem dopaminergen Mittelwertkern, der Substantia nigra pars compacta.

Im Verlaufe der Evolution kam es jedoch auch zu Interaktionen der zurückkehrenden dopaminergen Axone mit diesen hemmenden, GABAergen Interneuronen, die zwischen den cortikalen Outputneuronen der Klasse 5 für die laterale Hemmung und damit für die Kontrastverstärkung sorgten. Die GABAergen Interneuronen mussten dafür Rezeptoren für Dopamin entwickeln. Der Dopaminrezeptor D2 bewirkte, dass die dopaminergen Axone die hemmenden Interneuronen erregten, so wie es das zugehörige glutamaterge Cortexneuron ebenfalls tat.

Die dopaminergen Axone fanden in den hemmenden Interneuronen des Cortex geeignete kontaktpartner. Jedem cortikalen Partner entsprach ja ein Hemmungsneuron, mit dem es synaptische verbunden war. Es lag eine Signalverwandschaft vor. Das erleichterte den dopaminergen Axonen die Zielfindung. Sie dockten an ihnen an. So kam es zum Funktionswandel dieser hemmenden Interneuronen im Cortex. Wir wollen sie hier kurzzeitig als Hemmungsneuronen bezeichnen.

Die cortikale Erregung eines Hemmungsneurons durch das zugeordnete Cortexneuron der Klasse 5 wurde schrittweise reduziert und fiel (im Verlauf eines längeren Evolutionsprozesses) völlig weg.

 

Stattdessen kam die Erregung über den dopaminergen Umweg: Das Cortexneuron projizierte in die Substantia nigra pars compacta, wo das Signal auf Dopamin umgeschaltet wurde und nun seinerseits das Hemmungsneuron aktivierte.

 Ein Nachteil trat dadurch zunächst nicht auf. Es war so, als hätte man der ursprünglichen Nachbarhemmung nun noch eine weitere Nachbarhemmung hinzugefügt. Dies lag an der Punkt-zu-Punkt-Projektion.

 Gleichzeitig erfolgte eine Reduktion der hemmenden Synapsen der Striatumneuronen, die bisher die benachbarten Cortexneuronen hemmten. Während früher die Axone der hemmenden Interneuronen sich stärker verzweigten und benachbarte Cortexneuronen hemmten, wurden bei den Striatumneuronen diese Axonverzweigungen allmählich komplett abgebaut.

 Stattdessen entwickelte sich bei jedem Striatumneuron ein einzelnes Projektionsaxon, welches wie die übrigen Projektionsaxone dieser Region ebenso nach unten strebte. Die Striatumneuronen wurden wie die abwärts projizierenden Konnektivneuronen der Klasse 5 behandelt.

 So entstand in der ersten Etage eine neue Klasse von hemmenden Neuronen aus den ursprünglich vorhandenen Interneuronen. Sie empfingen die rückkehrende dopaminerge Erregung der Substantia nigra pars compacta. Wir werden diese Neuronen (aus gutem Grund) als Striosomenneuronen bezeichnen. Ihre Signale waren signalverwandt mit den Cortexsignalen, denn sie gingen aus ihnen durch eine Transmitterumschaltung von Glutamat auf Dopamin hervor. Diese Neuronen übernahmen von den Cortexneuronen die Richtungsselektivität auf denjenigen Marker, der die Axone abwärts wachsen ließ. Daher entwickelten sie (im Verlauf der Evolution) - ebenso wie die Cortexneuronen - abwärts projizierende Axone, die ebenfalls zum Nucleus ruber zogen. Sie folgten einfach dem zuständigen Gradientengefälle des Richtungsmarkers. Dort angekommen dockte jedes Axon - in einer Punkt-zu-Punkt-Abbildung - genau an dem Neuron an, welches das Axon des signalverwandten Cortexsignals empfing. Weil es den Transmitter GABA verwendete, wurde das Outputneuron im Nucleus ruber nun zusätzlich gehemmt. Genau dies stellte einen enormen Vorteil dar.

 Die Population von hemmenden Interneuronen im Cortex, die zwischen den Neuronen der Klasse 5 eine laterale Nachbarhemmung realisierten, verschwand durch diesen Prozess völlig, ebenso die kontralaterale. Es fehlten die hemmenden Interneuronen, die inzwischen als Projektionsneuronen für das Striatum arbeiteten. Daher wurde die kontralaterale Hemmung in die thalamische Etage verlagert, wie bereits beschrieben worden ist.

 In späterer Evolutionszeit sollte sich eine weitere Struktur, die Matrix, bilden. Beide, Matrix und Striosomen, bilden bei modernen Wirbeltieren das Striatum. Die Striosomenstruktur entstand als erste auf einer sehr frühen Stufe der Entwicklung.

Theorem der Striosomenherkunft

Die Striosomenneuronen sind Abkömmlinge der hemmenden Interneuronen des ersten, cortikalen Segments, welche für die laterale Hemmung und somit für eine Kontrastverstärkung der absteigenden Cortexsignale zuständig sind. Sie empfangen die erregende dopaminerge Rückprojektion aus der Substantia nigra pars compacta und projizieren hemmend zum Nucleus ruber.

Diese Entwicklung gab es parallel in der Parietal-, Temporal- und Okzipitalschleife, später vollzog sie sich auch in der entstehenden Frontalschleife

Worin bestand der Vorteil, wenn jedes Outputneuron im Nucleus ruber einerseits genau ein Cortexsignal und andererseits das daraus abgeleitete Hemmungssignal empfing? Eigentlich waren beide identisch, so dass (gleiche Signalstärke vorausgesetzt) das Nullsignal entstehen müsste, welches wertlos war.

 Der Nutzen lag in der geringen, dopaminerg verursachten Zeitverzögerung. Denn die hemmenden Signale hatten zusätzlich den Weg zurückgelegt, der dem doppelten Abstand zwischen der ersten und der siebenten Etage entsprach. Insofern war der dopaminerge Kern ein Verzögerungskern.

 Hatte sich in der Zwischenzeit das Signal des betreffenden Cortexneurons nicht geändert, so lag nun im zuständigen Neuron des Nucleus ruber das Nullsignal an (vollständige Hemmung vorausgesetzt). Nur wenn das glutamaterge Gegenwartssignal stärker war als das GABAerge Vergangenheitssignal, blieb trotz der Hemmung ein hinreichendes Restsignal übrig. Dieses Signal war das Differenzsignal zwischen Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit. Seine Zielneuronen waren wiederum die Motoneuronen, so dass das Differenzsignal motorische Reaktionen auslöste, die es vorher so nicht gab.

 Lebewesen mit einer derartigen Differenzschaltung reagierten nunmehr deutlich stärker auf zeitliche Veränderung von Signalen. Zeitliche Veränderungen sind unter anderem die Folge von Bewegungen. Bewegt sich ein Objekt, so verändern sich dadurch die von den Sensoren registrierten Signale. Bewegte Objekte konnten nun auf vielfache Weise wahrgenommen werden, etwa olfaktorisch, taktil, akustisch oder visuell. Zur Wahrnehmung reichte eine geringe Zunahme der entsprechenden Signalstärke. Diese war bei Annäherung von Beutetieren zu beobachten, die nun leichter erkannt werden konnten. Gleiches galt für Fressfeinde, denen nun ausgewichen werden konnte, weil man ihre Annäherung wahrnahm.

 Da diese Differenzschaltung sich auf Signale aus der Parietal-, Temporal- und Okzipitalschleife bezog, wurden alle Modalitäten des Lebewesens in die Bewegungs- und Veränderungserkennung integriert.

Die hemmenden Neuronen der ersten Etage, die den erregenden, dopaminerg verzögerten Input empfingen und hemmend zum Nucleus ruber sandten, bildeten die Urform des Striatums der Wirbeltiere, welches anfänglich lediglich aus den Striosomen bestand. Die Striosomenneuronen werden vom Transmitter Dopamin erregt, weil sie den Dopaminrezeptor D2 besitzen. Sie selbst verwenden den hemmenden Transmitter GABA.

 Später kam als zweites Teilsystem das Matrixsystem hinzu. Die Matrixneuronen besitzen den Dopaminrezeptor D1, daher werden sie vom dopaminergen Input gehemmt. Ihr Transmitter ist ebenfalls GABA.

Sowohl Striosomenneuronen als auch Matrixneuronen sind heute noch im Striatum der modernen Wirbeltiere vorhanden. Auch bei Säugetieren finden wir sie. Dadurch besteht das Striatum moderner Säugetiere aus zwei Kompartimenten, die als Striosomen und als Matrix bezeichnet werden. Die Striosomen sind in der Minderheit und sind im Striatum verteilt in etwa wie Rosinen in einem Kuchen. Genau diese Striosomenneuronen werden noch heute von der Substantia nigra erregt und projizieren über den Tractus tegmentalis centralis hemmend in den Nucleus ruber, so wie sie es seit Urzeiten tun.

Theorem der Bewegungserkennung durch das Urstriatum

Das Urstriatum bestand nur aus den Striosomen. Deren Neuronen empfingen eine komplette Kopie des Outputs des ersten, cortikalen Segments des bilateralen Strickleitersystems über den Umweg des dopaminergen Mittelwertkerns des siebenten Segments. Da sie den Dopaminrezeptor D2 nutzten, wurden sie vom Input erregt. Ihr Output hemmte über den Transmitter GABA im Ausgangssegment des Urhirns, im Nucleus ruber, topologisch wohlgeordnet die Outputneuronen, die das gleiche cortikale Signal in erregender Form empfingen. Durch die Zeitdifferenz zwischen erregenden und hemmenden Signalen entstand eine Differenzabbildung, die selektiv auf Veränderungen reagierte und somit über alle sensorischen Modalitäten Bewegungen detektieren konnte, die zu motorischen Reaktionen führten. Die Substantia nigra pars compacta übernahm hierbei die Rolle eines dopaminergen Verzögerungskerns.

Wir hatten sowohl die Neuronen in Neuronenklassen eingeteilt als auch die Signale nach Signalklassen. Analog können wir die zeitsensitiven Differenzabbildungen im Urhirn nach Signalklassen einteilen. Dann wird die zeitsensitive Differenzabbildung der Klasse 5 dem Nucleus ruber zugeordnet. Der hemmende, zeitverzögerte Zweig dieser Differenzabbildung entsteht in den Striosomen des Urhirns, der erregende wird von der Signalklasse 5 des Urhirns an der Nucleus ruber übergeben.

 Damit erlitt der Nucleus ruber einen Funktionswandel. War er bislang der Ausgangskern des Urhirns, so wurde er nun zum materiellen Sitz der zeitsensiblen Differenzabbildung und erlaubte motorische Reaktionen auf Veränderungen aller Art, die zuvor unmöglich waren.

Theorem des Funktionswandels des Nucleus ruber

Mit der Herausbildung des frühen Basalgangliensystems trat im Nucleus ruber ein Funktionswandel auf. Er war zwar immer noch der Ausgangskern des Urhirns und seine Signale steuerten die Motoneuronen des Körpers an, aber nun diente er zusätzlich der Erkennung von Veränderungen aller Art und generierte über eine zeitsensitive Differenzabbildung neue motorische Reaktionen.

In späteren Entwicklungsepochen auf dem Weg zu den Wirbeltieren wurde die Differenzabbildung im Nucleus ruber durch eine weitere in einem neuen Neuronenkern ergänzt, der zur thalamischen Gruppe gezählt wird. In der weiteren Entwicklung kam es zur Entwicklung der Matrixneuronen im Striatum, die hemmend in diese Thalamusgebiete projizieren. Dies wird in späteren Kapiteln ausführlicher beschrieben.

 

Das Gesamtsystem aus Striatum, Substantia nigra pars compacta und etlichen weiteren Subsystemen wird als Basalgangliensystem bezeichnet.

 Die Bewegungs- und Veränderungserkennung im sich entwickelnden Basalgangliensystem der Wirbeltiere beruht auf dem Vergleich der Signalstärke der Signale der Vergangenheit und der Gegenwart. Hierbei wirken die Vergangenheitssignale hemmend, die Gegenwartssignale erregend. Die Vergangenheitssignale werden aus den Gegenwartssignalen abgeleitet, indem diese beim Durchlaufen eines zusätzlichen Umweges eine Zeitverzögerung erleiden und zu Vergangenheitssignalen werden. Eine Transmitterumschaltung von Dopamin auf GABA verleiht ihnen eine hemmende Wirkung. Der Vergleich fand in urtümlicher Evolutionszeit direkt im Nucleus ruber statt und führte zu zusätzlichen motorischen Reaktionen auf Veränderungen. Später entstanden eigene Vergleichskerne in der thalamischen Etage.

Theorem des Arbeitsprinzips der Basalganglien

Die Basalganglien des Wirbeltiergehirns ermöglichen eine Bewegungs- und Veränderungserkennung durch den Signalvergleich von Vergangenheitssignalen mit Gegenwartssignalen. Die Vergangenheitssignale entstehen durch eine Zeitverzögerung von Gegenwartssignalen auf zusätzlichen Wegabschnitten des dopaminergen Systems. Die Vergangenheitssignale hemmen die Gegenwartssignale, so dass die Erregungszunahme von Gegenwartssignalen sowie die Erregungsabnahme von Vergangenheitssignalen beim Signalstärkevergleich ein erregendes Differenzsignal entstehen lässt, welches zusätzliche motorische Aktivitäten auslösen kann. Im urtümlichen Basalgangliensystem bestand das Striatum lediglich aus Striosomen und wirkte in einer Punkt-zu-Punkt-Abbildung hemmend in den Nucleus ruber, welcher der motorische Ausgangskern war.

Bezüglich der Hemmungswirkung können wir davon ausgehen, dass die synaptische Kopplung der Neuronen von Striatum und Nucleus ruber zunächst gering war und im Verlaufe von unzähligen Generationen langsam stärker wurde. Die anfänglich geringe Hemmungswirkung nahm im Verlauf der Evolution stetig zu. Parallel dazu wuchs die Fähigkeit, Bewegungen zu erkennen, langsam und stetig an und führte so zu einem evolutionären Vorteil. Lebewesen mit einer stärkeren synaptischen Kopplung zwischen diesen Neuronen waren bei der Bewegungserkennung klar im Vorteil.

 Für die verkürzte Darstellung von Neuronenketten führen wir folgende symbolhafte Darstellung ein, die wir als Kurzschreibweise bezeichnen:

1.      Jedes beteiligte Neuron (bzw. jede Beteiligte Neuronengruppe) wird gekennzeichnet durch die Angabe des Kerns bzw. der Neuronenschicht, gefolgt vom Transmitter und der Erregungsart (+,-), alles in runde Klammern gesetzt.

2.      Die Elemente der Kette werden durch Pfeile getrennt, die die Ausbreitungsrichtung angeben.

Dann wird die Neuronenkette für die Striosomen, die ja im Cortex beginnt, wie folgt beschrieben:

Striosomenprojektion: (Cortex 5, Glutamat, +) → (Substantia nigra pars compacta, Dopamin, +) → (Striosomen, GABA, -) → (Nucleus ruber, Glutamat, +)

Nicht vergessen werden sollte jedoch die Mittelwertprojektion über den gleichen Weg:

Mittelwertprojektion: (Cortex 6, Glutamat, +) → (Substantia nigra pars compacta, Dopamin, +) → (Striosomen, GABA, -) → (Nucleus ruber, Glutamat, +)

Der Tractus tegmentalis centralis vom Striatum zum Nucleus ruber und weiter zum Nucleus olivaris sollte später - als sich ein Cerebellum herausbildete - eine bedeutende Rolle spielen. Die vom Striosomensystem über diesen Trakt ausgesandten Signale bildeten viele Jahrmillionen später im Pontocerebellum die Klasse der Kletterfasersignale. Diese wurden die Grundlage der Lernfähigkeit dieser neuen Struktur. Dies wird im Kapitel 4 weiter ausgebaut. Als sich viel später im Striatum das Matrixsystem herausbildete, wurden dessen Projektionsaxone in den bestehenden Tractus tegmentalis centralis integriert.

Theorem des Tractus tegmentalis centralis

Die Projektion von den Striosomenneuronen über den Nucleus ruber zum Nucleus olivaris wird als Tractus tegmentalis centralis bezeichnet und stellt die Projektion der cortikalen Etage in das Kletterfasersystem des Cerebellums dar. Sie bildet die materielle Voraussetzung für die Entstehung des Pontocerebellums der Wirbeltiere.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass verschiedene Strukturen des frühen Gehirns bereits existierten, obwohl die Anschlussstrukturen sich noch gar nicht entwickelt hatten. So gab es auf der hier beschriebenen Entwicklungsstufe noch gar kein richtiges Cerebellum, sondern nur seinen Vorläufer in Gestalt des Purkinjekerns, letzterer war zunächst eine Ansammlung hemmender Projektionsneuronen und diente der kontralateralen Hemmung der motorischen Gegenspieler. Aber der wichtige Tractus tegmentalis centralis hatte sich bereits ausgebildet.

Die vom Striatum in Richtung Nucleus ruber ziehenden Axone kamen auf ihrem Weg an zwei bereits vorhandenen Mittelwertkernen vorbei und zogen quasi durch sie hindurch. Der obere war der Nucleus subthalamicus, der untere die Substantia nigra pars compacta. Beide waren durch den Zustrom cortikaler Erregungen tonisch erregt. Zur Vermeidung von schädlicher Übererregung nahmen die striatalen Axone synaptischen kontakt mit den Mittelwertneuronen beider Kerne auf und hemmten diese. Derartige Erregungsbegrenzungen finden wir im Wirbeltiergehirn in vielen Substrukturen wieder.

Theorem der Hemmung von Mittelwertkernen durch das Striatum

Die Striosomenneuronen des frühen Striatums projizierten auf ihrem Weg zum Nucleus ruber über Kollateralen hemmend in den Nucleus subthalamicus und in die Substantia nigra pars compacta. Dadurch wurde deren Erregung durch die cortikalen Signale begrenzt.

Die hemmende Projektion des Striatums in den Nucleus subthalamicus legte den Grundstein für die spätere Abspaltung eines neuen Kerns, der unter dem Namen Globus pallidus bekannt ist. Er ist ein Abkömmling der hemmenden Interneuronen des Nucleus subthalamicus, die dort der lateralen Hemmung und damit der Kontrastverstärkung dienten. Sie wurden von den Neuronen des Nucleus subthalamicus (tonisch) erregt und vom Striatum gehemmt. Ihre Rückprojektion erreichte die thalamische Etage. Eine ähnliche Entwicklung nahmen die hemmenden Interneuronen der Substantia nigra pars compacta, hier entstand als neuer Kern die Substantia nigra pars reticularis. Doch diese Entwicklung erforderte zunächst die Entstehung eines Cerebellums.


 

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan