Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.7 Die Signalwechselwirkungen im Torus semicircularis

Das beschriebene Gehirnsystem der segmentierten Bilateria, deren Linie zu den Wirbeltieren führte, war erfolgreich, weil es eine Signalwechselwirkung erlaubte. Wir diskutieren hier die Signalwechselwirkung im Torus semicircularis. Diese Struktur ordneten wir bereits dem vierten Segment der segmentierten Bilateria zu, deren Linie zu den Wirbeltieren führte. In diesem Segment trafen die Signale der Haarzellensysteme ein, zu denen das Vestibularsystem, das Seitenliniensystem und später auch der Hörsinn zählten. Weitere Sinne, die sich nach der Herausbildung entsprechender Rezeptoren etablierten, waren der Tastsinn und der Schmerzsinn. Die Struktur des Torus semicircularis stellt bei Wirbeltieren ein bedeutendes Integrationszentrum dar. Es bewirkt motorische Reaktionen auf die Signale, die von den verschiedenen Rumpfrezeptoren als Reaktion auf äußere Reize geliefert werden.

Wir betrachten die Arbeitsweise dieser Struktur zu einem sehr frühen evolutionären Zeitpunkt bei den segmentierten Bilateria, deren Linie zu den Wirbeltieren führte. Später, beim Übergang zu den Wirbeltieren, erweitert diese Struktur die Algorithmen der Signalwechselwirkung. Noch später, bei den höheren Säugetieren, übernahm der Cortex viele von ihnen, so dass eine starke Reduktion der Aufgabengebiete eintrat.

Wir erinnern uns daran, dass es unterhalb des Thalamus - also unter dem zweiten Segment - eine topologische Wohlordnung der Konnektivaxone der Klassen 4 und 5 des Neuralrohrs gab, die wir als Modalitätenringe bezeichnen. Diese bestanden wiederum aus ineinander geschachtelten Segmentringen jeweils der gleichen Modalität, deren Input innen vom Schwanzsegment, außen dagegen vom Kopfsegment stammte und dazwischen nach Segmentnummern geordnet war. Dies galt sowohl für die sensorischen, aufwärts projizierenden Axone als auch für die motorischen, abwärts projizierenden Axone, wobei der Kopf in diesem Falle oben angeordnet war. Die sensorischen befanden sich in einem Modalitätenhalbring, die motorischen im dazu komplementären.

In jedem der verschiedenen sensorischen Modalitätenhalbringe aus Axonen, die aus zugehörigen Segmenthalbringen bestanden, führte jedes Axon seine sensorische Erregung kopfwärts zu einem Konnektivneuron der Klasse 4 des vierten Segments - also dem Torus semicircularis. Hier unterstellen wir eine topologische Wohlordnung dieser Inputneuronen. Die sensorischen Konnektivneuronen bildeten pro Modalität eine Schicht, die die gekrümmte Fläche eines halben Hohlzylinders darstellte. Diese Zellschicht war einlagig. Jede Modalität bildete so eine einlagige Zellschicht aus ihr zugeordneten Inputneuronen. Dabei entsprach die Reihenfolge der Modalitäten der halben Hohlzylinder der Reihenfolge der Modalitätenringe der zugehörigen Axone.

Die Inputneuronen in jedem halben Hohlzylinder waren nach Segmenten geordnet. Man kann sich also so viele halbe Subzylinder übereinandergestapelt vorstellen, wie es Rumpfsegmente gab. Der halbe Subzylinder, der dem Schwanzsegment zugeordnet war, befand sich oben. Benachbarte Segmente projizierten in benachbarte halbe Subzylinder.

Weil im Neuralrohr alle Neuronen innen liegen, zogen die Axone also zunächst außen nach oben, bis sie sich auf der Höhe des zuständigen halben Subzylinders befanden. Hier bogen sie etwa halbkreisförmig in Richtung Neuralrohrinneres und zogen zum Konnektivneuron des betreffenden halben Subzylinders der ihnen zugeordneten Modalität.

Gab es im betreffenden Körpersegment mehrere Rezeptoren dieser Modalität, so wurden ihre Nachbarschaftsbeziehungen im Modell des zugehörigen halben Subzylinders auf die Konnektivneuronen übernommen.

So stellte letztlich jeder halbe Hohlzylinder ein Körpermodell der Rezeptoren einer ihm zugeordneten Modalität dar, bei der die räumliche Lage der Rezeptoren auf bzw. im Körper und ihre vorhandenen Nachbarschaftsbeziehungen und Segmentzuordnungen wiedergegeben wurden durch die zugehörigen Konnektivneuronen der Klasse 4. Und die verschiedenen, ineinander geschachtelten halben Hohlzylinder waren räumlich synchronisiert zueinander.

Dies bedeutete, dass die Signale zweier Rezeptoren, die unterschiedlichen Modalitäten, etwa Tastsinn und Schmerzsinn zugeordnet waren und im Körper räumlich benachbart waren, im halben Hohlzylindermodell zwar unterschiedliche Neuronen - in unterschiedlichen Schichten - erreichten, aber diese zwei Neuronen eben auch benachbart waren. Sie befanden sich also etwa auf gleicher Höhe und an etwa der gleichen Winkelposition.

Bisher wurde die Topologie der Inputneuronen der Klasse 4 im Torus semicircularis beschrieben. Sie empfingen die Rezeptorsignale des Rumpfes. Es gab aber im Torus auch abwärts projizierende Neuronen der Klasse 5. Sie befanden sich in der komplementären Hälfte von Hohlzylindern. Hier gab es jedoch nur eine Modalität, alle Projektionen erfolgten in die Motoneuronen des Rumpfes. Daher gab es nur eine einlagige Schicht von Projektionsneuronen, die aber ebenfalls nach Segmenten sortiert eigene halbe Subzylinder bildeten, deren Gesamtheit den motorischen Halbzylinder darstellte. Daher ist die motorische Hälfte des Torus semicircularis relativ unauffällig.

Theorem der Topologie der Konnektivneuronen im Torus semicircularis

Die Konnektivneuronen des vierten Segments bilden die assoziative Struktur des Torus semicircularis. Sie bilden das Innere dieser Struktur. Die sensorischen Konnektivneuronen bilden nach Modalitäten geordnete halbe Hohlzylinder, die eine einlagige Schicht aus den Konnektivneuronen der jeweiligen Modalität darstellen. Innerhalb der halben Hohlzylinder erfolgt eine Sortierung nach Körpersegmenten. Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Rezeptoren gleicher oder verschiedener Modalitäten im realen Lebewesen bleiben im Modell der halben Hohlzylinder bei den zugehörigen Konnektivneuronen erhalten.

Die motorischen Projektionsneuronen des vierten Segments bilden - da sie nur eine Modalität, die Motoneuronen - repräsentieren, einen halben Hohlzylinder mit gleicher Topologie. Benachbarte Outputneuronen projizieren zu Muskelspindeln benachbarter Muskeln. Im Torus semicircularis wird auch die Seitenzuordnung der Rezeptoren und ihrer Projektionsneuronen beibehalten, Rezeptoren der linken Körperhälfte treffen im linken Torus und die der rechten Hälfte im rechten Torus ein. Analoges gilt für den motorischen Output.

Linker und rechter Torus bilden insgesamt eine Art Hohlzylinder - diese Form ist namensgebend.

In der Mathematik wird ein Körper in der Form eines Schwimmringes als Torus bezeichnet. Das lateinische Wort semicircular bedeutet halbkreisförmig. Die Bezeichnung Torus semicircularis nimmt Bezug auf die aus halben Hohlzylindern bestehende Form des sensorischen Anteils dieser auffälligen Struktur im Stammhirn der Wirbeltiere.

Diese spezielle Topologie erlaubte wohlgeordnete Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modalitäten sowohl auf der sensorischen als auch auf der motorischen Seite.

Die Ursache lag in der Wohlordnung der beteiligten Neuronen im vierten Segment.

Wir erinnern uns an das zu einer Körperhälfte der segmentierten Bilateria gehörende Strickleiter-Nervensystem. Aus dem sensorischen Zentrum des vierten Segments entstand der sensorische Teil des Torus semicircularis. Bei den Lebewesen, deren Linie zu den Wirbeltieren führte, entstand im vierten Segment eine neue Art von vermittelnden Interneuronen. Wir gehen hier davon aus, dass diese Neuronen erregend waren. Wurde ein Rezeptor an einer bestimmten Körperposition gereizt, so empfing im sensorischen Teil des Torus ein zugehöriges Konnektivneuron diese Erregung. Über erregende Interneuronen konnten nun die Projektionsneuronen erregt werden, deren Output die Motoneuronen ansteuerte.

Das Resultat war motorisch gesehen recht simpel. Wirkte auf den Körper an irgendeiner Stelle ein Reiz ein, so erreichte die zugehörige neuronale Erregung den Torus. Über Interneuronen wurden diese Erregung weitergeleitet unter anderem zu den Projektionsneuronen der Muskelspindeln, die sich in einer Neuronenschicht als Körpermodell wohlgeordnet neben der Schicht befanden, die den ursprünglichen Reiz empfing. Durch die Wohlordnung im Torussystem wurden nun gerade die Projektionsneuronen zu den Muskelspindeln erregt, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Reizeinwirkung auf den Körper befanden. Daher erhielten die Muskeln in der Umgebung der Einwirkungsstelle des Reizes eine neuronale Erregung, die zur Kontraktion des Rumpfes an dieser Stelle führte. Der Körper bog sich - etwa wie eine gekrümmte Gurke. Dadurch entfernte sich der Körper von der Stelle, an welcher der Reiz auf den Körper einwirkte, etwa ein Fressfeind, ein Hindernis oder ähnliches. Der Torus bewirkte das Ausweichen des Körpers und damit den Eigenschutz des Lebewesens. Viel später, als das Gehirnsystem das Cerebellum hervorgebracht hatte, erlangte das Lebewesen eine Lernfähigkeit, die zur Reduktion des Torus führen sollte.

Zusätzlich befinden sich in dieser Etage auch die sensorischen und motorischen Seitenwechselkerne für die kontralaterale Hemmung. Da im Verlaufe der Evolution eine Trennung der Modalitäten eintrat und sich neben dem Vestibularsinn, dem Seitenliniensinn, dem elektrosensorischen Sinn auch noch der Hörsinn herausbildete, gibt es bei höheren Wirbeltieren in dieser Etage eine Fülle von Kernen, die der Signalauswertung dienen. Wir werden sie hier nicht weiter behandeln, da gerade hier im Verlaufe der Evolution umfangreiche Umbauten stattfanden. Das Grundprinzip im Torus semicircularis bestand in der Signalwechselwirkung (Interferenz) der verschiedenen Modalitäten über wohlgeordnete Körperabbilder, die in benachbarten Neuronenschichten angeordnet waren und auf das motorische Körperabbild einwirken konnten.

Die Signalwechselwirkungen im Tectum opticum wurden im vorangegangenen Kapitel beschrieben und beruhen auf den gleichen Prinzipien, allerdings wird dort das visuelle Körperabbild zur Überlagerung verwendet.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan