Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.13      Visuelle Bewegungserkennung im frühen Urhirn

Die zeitsensitive Differenzabbildung im Nucleus ruber zur Bewegungsanalyse sollte nicht die einzige bleiben. Der Nucleus ruber projizierte absteigend zu den Motoneuronen. Damit stand diese Differenzabbildung zur Bewegungserkennung im Urhirn, also oberhalb des Nucleus ruber, leider nicht direkt zur Verfügung.

Nur der Frontalcortex empfing vom Nucleus ruber die Differenzabbildung über den Umweg des Spinocerebellums, dessen Input vom Nucleus ruber über den Nucleus olivaris geliefert wurde. Er konnte Bewegungen erkennen. Die übrigen cortikalen Lobi waren an diesem Signalweg nicht beteiligt.

Das war nachteilig, weil es ja auch Signale gab, die erst oberhalb des Nucleus ruber das Urhirn erreichten, etwa visuelle Signale.

Die Fähigkeit zur Erkennung der Bewegung von visuell wahrnehmbaren Objekten (Bewegungssehen) konnte dem Lebewesen einen ungeheuren Vorteil verschaffen.

Die Natur erwies sich in der Lage, diesen Vorteil herbeizuführen. Sie entwickelte ein neues Teilsystem, wobei sie bestehende Subsysteme ausbaute und weiterentwickelte.

Um dies zu verstehen, müssen wir uns an die Errungenschaft erinnern, die das Cerebellum hervorbrachte: Die Fähigkeit zur Signalinversion.

Beim Sehsinn entwickelte sich eine Besonderheit. Die Signalinversion erfolgte dort ab einer gewissen evolutionären Stufe direkt in den Sehrezeptoren. Rezeptorsignale konnten direkt vor Ort an sogenannten Bandsynapsen invertiert werden.

Zunächst gab es ja nur das Hell-Dunkel-Sehen. Doch bereits dieses lieferte zwei Arten von Outputsignalen: On-Signale und Off-Signale.

Während bei On-Signalen die Feuerrate mit zunehmender Signalstärke zunimmt (streng monoton wachsende Funktion), nimmt sie bei Off-Signalen ab (streng monoton fallende Funktion).

Ein On-Signal kann durch Signalinversion in ein Off-Signal überführt werden. Nötig ist als erstes eine Umschaltung auf einen hemmenden Transmitter. Zweitens wird ein erregendes Mittelwertsignal benötigt. Drittens braucht man ein Inversionsneuron, welches vom Mittelwertsignal tonisch erregt wird, während es vom hemmenden Signal relativ gehemmt wird. Dadurch kehrt sich der Monotonieverlauf um. Je schwächer das Inputsignal wird, umso stärker ist das Restsignal, weil der Signalmittelwert nun weniger gehemmt wird.

Im visuellen System wird die Signalinversion bereits auf Rezeptorebene durch sogenannte Bandsynapsen realisiert. So liegt dann das Signal als Signalpaar vor, je eine On-Variante und eine Off-Variante.

Wir wollen zeigen, wie das Urhirn der frühesten Wirbeltiere bereits in die Lage versetzt werden konnte, Bewegungen sowohl im On-Signalweg als auch im Off-Signalweg zu erkennen. Das bedeutet, es konnte beispielsweise die Bewegung heller Objekte erkennen, aber ebenso auch die Bewegung dunkler Objekte. Und die beides gleichzeitig und unabhängig voneinander.

Nimmt man als On-Signal das Signal Rot+/Grün- und als Off-Signal die entgegengesetzte Variante Rot-/Grün+, so konnte ein Lebewesen nunmehr sowohl die Bewegung roter Objekte wahrnehmen als auch die Bewegung grüner Objekte. Beide Kanäle waren getrennt, völlig unabhängig voneinander.

Wie konnte im Urhirn eine solche Bewegungsanalyse realisiert werden?

Wir wählen ganz abstrakt zwei Signalkanäle, die paarweise zusammengehören, weil sie aus einem On-Signal und einem Off-Signal bestehen. Beide Signalarten verlassen die Retina und ziehen Bildpunkt für Bildpunkt wohlgeordnet zum Eingangssegment der visuellen Etage des Strickleitersystems. Dieses entspricht dem visuellen Thalamus. Dieses sensorische Zentrum projiziert nun einerseits zum motorischen Zentrum über die waagerechten Kommissurneuronen der Klasse 3. Die visuellen Signale erreichen so das motorische Zentrum. Ebenso werden sie auf Konnektivneuronen der Klasse 4 in die oberste Etage also die cortikale Etage übertragen. Es gibt aber ein drittes Ziel.

Wir erinnern uns: Alle Signale werden in die verschiedenen Mittelwertsysteme übertragen. Unter anderem auch in die dopaminerge Substantia nigra pars compacta. Dies gilt sowohl für die visuellen On-Signale unseres Beispiels als auch für die Off-Signale. Für die Übertragung werden Neuronen der Klasse 5 benutzt, die abwärts auch zu den Mittelwertkernen projizieren.

Die Substantia nigra pars compacta des frühen Urhirns projizierte jedoch erregend zurück zu den Striosomen. Bildpunkt für Bildpunkt wurde dort sowohl für die On-Signale als auch für die Off-Signale je eine Schicht GABAerger Striosomenneuronen kontaktiert und erregt.

Somit gab es in den Striosomen unter anderem zwei neue Abbilder der Netzhaut: eine Neuronenschicht repräsentierte die On-Signale, die andere die Off-Signale.

In späterer Evolutionszeit gab es für jeden Farbkanal eine solche On-Schicht und eine Off-Schicht im Striatum, ebenso für den Helligkeitskanal.

Die GABAergen Striosomenneuronen projizierten absteigend in Richtung der Substantia nigra pars compacta. Sie konnten jedoch nicht die Neuronen kontaktieren, von denen das Signal kam. Dann wäre die Signalübertragung zusammengebrochen. Aber die Substantia nigra pars compacta enthielt hemmende Interneuronen. Diese dienten dort ursprünglich der lateralen Hemmung, also der Kontrastverstärkung zwischen den Signalen. Dazu wurden sie von den dopaminergen Neuronen erregt, denn dieser Kern war ja auch ein Mittelwertkern.

Diese von den Striosomen zurückkehrenden Signale waren hemmend. Sie rekrutierten im Mittelwertkern der SNpc die dort vorhandenen, hemmenden Interneuronen. Diese sonderten sich daraufhin im Verlaufe eines länger andauernden evolutionären Prozesses von der Substantia nigra pars compacta ab und bildeten einen eigenen Kern, die Substantia nigra pars reticularis. Diese bestand aus GABAergen, also hemmenden Projektionsneuronen und projizierte hemmend in den Thalamus. Grund war die Signalverwandschaft, die Ursignale stammten von dort. Diese hemmenden Neuronen empfingen jedoch nach wie vor die Mittelwerterregung der Substantia nigra pars compacta. Sie waren tonisch erregt. Daher fand in ihnen eine Signalinversion statt. Aus den On-Signalen wurden so Off-Signale, und die bisherigen Off-Signale wurden in On-Signale transformiert.

Diese Signale hatten durch die lange Laufzeit auf der längeren Wegstrecke eine Zeitverzögerung erhalten und waren somit die hemmende, zeitverzögerte Komponente der ursprünglichen Signale, zusätzlich trat eine Vertauschung des Typs auf: On wurde zu Off, Off wurde zu On.

Der Output der Substantia nigra pars reticularis erreichen wieder aufsteigend den Thalamus und docken dort wieder passgenau an. Die On-Signale der SNpr docken im Thalamus an Neuronen an, die ebenfalls das visuelle On-Signal aus der Retina erhielten. Da sie von der SNpr auf GABAergen Axonen eintrafen, wirken sie hemmend. Zusätzlich weisen sie eine Zeitverzögerung auf. Daher entstand für den On-Signal-Typ eine zeitsensitive Differenzabbildung. Punkt für Punkt, Bildpixel für Bildpixel blieb in der Differenzabbildung nur dort ein Signal übrig, wo das Vergangenheitssignal aus der SNpr sich vom Gegenwartssignal unterschied. Alle bewegten Objekte des Typs On werden sichtbar. Im Falle von Hell-On-Signalen also die hellen Objekte, die sich zwischenzeitlich bewegt haben.

War jedoch das On-Signal das Farbsignal Rot+/Grün-, so bleiben alle roten Objekte sichtbar, die sich bewegt haben.

Analog gibt es eine Thalamusschicht von Differenzneuronen, die das Off-Originalsignal von der Retina als erregende Variante erhielten und zusätzlich das hemmende und zeitverzögerte Off-Signal aus der Substantia nigra pars reticularis. Diese Differenzabbildung enthält alle Objekte dieses Signaltyps, die sich zwischenzeitlich bewegt haben. Also etwa die dunklen Objekte bzw. die grünen.

Wir unterstellen, dass die thalamischen Differenzneuronen eigene Populationen bildeten, die in eigenen Schichten und Kernen angeordnet waren. So blieben die bisherigen Projektionen zum Cortex erhalten, die es schon sei Urzeiten gab. Zusätzlich gab es nun diese Differenzneuronen, die der Bewegungsanalyse dienten. Und wir unterstellen, dass die Projektionsorte sich ebenso unterschieden. Die bisherigen Projektionsneuronen zogen in ein eigenes Cortexgebiet, welches der Objektanalyse diente (Was ist das?).

Die Projektionsaxone der Differenzneuronen zogen in ein anderes, eigenständiges Cortexgebiet, welches der Orts- und Bewegungsanalyse diente. Beide Projektionsarten und Cortexgebiete sind bei heutigen Wirbeltieren ebenfalls voneinander getrennt.

Beim Menschen wird die visuelle Form- und Farbwahrnehmung über den ventralen Pfad weitergeleitet, der zum inferioren Temporalkortex führt. Die für die räumliche Lokalisation und die Bewegungsanalyse erzeugten Signale erreichen über den dorsalen Pfad den posterioren Parietalkortex.

Theorem der Substantia nigra pars reticularis

Die Substantia nigra pars reticularis ist ein Abkömmling der hemmenden Interneuronen der Substantia nigra pars compacta. Sie dient der Inversion derjenigen cortikalen Signale, die jeweils in ihrer On- und Off-Variante vorliegen, sie ist daher ein Inversionskern. Durch die Signalinversion wird der Signaltyp getauscht. Eine hemmende Rückprojektion zum thalamischen Herkunftsort der Signale und eine typrichtige Überlagerung mit den Originalsignalen erzeugt dort eine (zusätzliche) zeitsensitive Differenzabbildung zur Bewegungsanalyse.

Die Zeitverzögerung erfolgt auf dem Umweg der Signale vom Thalamus zur Substantia nigra parc compacta, weiter zu den Striosomen des Striatums, von dort zur Substantia nigra pars compacta mit Signalinversion und zurück zum thalamischen Herkunftsort.

Da nicht nur visuelle Signale in einer On- und einer Off-Variante vorliegen, sondern auch andere Rezeptorensysteme eine derartige Aufspaltung in On- und Off-Signale herausbildeten, wird die Substantia nigra pars reticularis auch von diesen Signalen erreicht. Die Endigungsgebiete ihres Outputs liegen dann natürlich nicht im visuellen Thalamus, sondern oft auch im ventralen Thalamus. Das Signalverarbeitungsprinzip ist jedoch das gleiche. Zuerst eine Zeitverzögerung im dopaminergen Teilsystem der SNpc, die Rückprojektion in die Striosomen des Striatums, eine Umschaltung auf GABA, eine Signalinversion in der SNpr und die hemmende Rückprojektion zum Thalamus, wo die Differenzabbildung in der On- und Off-Variante erfolgt.

Theorem der Bewegungsanalyse für On-Off-Signalarten

Liegt eine Signalart in der On-Off-Variante vor, so erfolgt die Bildung einer zeitsensitiven Differenzabbildung zur Bewegungserkennung für diese Modalität durch die Beteiligung der Substantia nigra pars compacta, der Striosomen des Striatums, der Substantia nigra pars reticularis und des Thalamus.

Zunächst erfolgt die Signalprojektion vom Thalamus über den Cortex in die Substantia nigra pars compacta. Diese wirkt als Verzögerungs- und Umschaltkern. Nach Umschaltung auf Dopamin erfolgt die erregende Projektion in die Striosomen des Striatums und eine Umschaltung auf GABA. Dieses hemmende Signal wird in der Substantia nigra pars reticularis invertiert an hemmenden Inversionsneuronen, die ihre tonische Erregung sowohl aus der Substantia nigra pars compacta, aber ebenso auch aus dem Nucleus subthalamicus erhalten. Die relative Hemmung dieser Erregung entspricht der Signalinversion. So wird das On-Signal zum Off-Signal und das Off-Signal zum On-Signal. Beide weisen durch den langen Übertragungsweg eine Zeitverzögerung auf und sind daher Vergangenheitssignale.

Sie erreichen aufsteigend und hemmend den Thalamus und werden typgerecht mit den dortigen Ausgangssignalen überlagert, die die erregenden Gegenwartssignale darstellen. Als Resultat entsteht für jede Signalkategorie eine zeitsensitive Differenzabbildung, sowohl für die On- als auch für die Off-Variante. Dies ermöglicht die Bewegungserkennung von Objekten dieser Modalität in beiden Signalkategorien.

In späterer Evolutionszeit sollte die Substantia nigra pars reticularis diese Funktion auch für andere Signalarten realisieren, die in dieser Monografie als extremwertcodierte Signale bezeichnet werden. Dies fällt zusammen mit der Bildung der Matrix im Striatum und wird ab Kapitel 6 beschrieben.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan