Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.11  Die Entstehung des Vestibulocerebellums zur Inversion minimumcodierter vestibulärer Signale des Neovestibularsinnes

Der Output des Vestibularsystems sollte motorische Korrekturbewegungen auslösen, daher erreichte er den motorischen Ausgangskern des Urhirns, den Nucleus ruber. Hierbei erfolgte zuvor eine Aufteilung der Signale in linksseitig und rechtsseitig wirkende, die den Nucleus ruber der jeweiligen Körperseite erreichten.

Beim Paläovestibularsinn - ein Sandkörnchen rollte in der Statocyste an die tiefste Stelle - war der Vestibularsinn maximumcodiert und diente der aktiven Ansteuerung der Motoneuronen zur Auslösung von geeigneten Korrekturbewegungen. Hierzu war eine Signalkreuzung in der Kreuzungsetage des Urhirns nötig, damit die vestibulären Signale die Muskeln der Gegenseite erreichten. Nur so war eine Lagekorrektur möglich.

Nach dem Umbau war das Signal minimumcodiert. Der Muskel, der eigentlich kontrahieren sollte, erhielt das Nullsignal, während die übrigen mehr oder weniger stark erregt wurden. Dies führte zu Fehlreaktionen.

Eine Möglichkeit, die ursprünglichen Reaktionen wiederherzustellen, war die Signalinversion der Vestibularsignale. Dann würde das Signalminimum, welches keine Korrekturbewegung generieren konnte, in ein brauchbares Signalmaximum überführt werden. Eine Signalinversion kehrte nämlich die Monotonie um, aus Minima wurden Maxima und umgekehrt. Wir bezeichnen dies auch als Extremwertumkehr.

Die Signalinversion erfolgt in drei Schritten.

1. Umschaltung auf hemmende Transmitter (GABA).

2. Bereitstellung eines erregenden Mittelwertsignals.

3. Relative Hemmung des Mittelwertsignals durch das hemmende Signal aus dem Schritt 1.

Die Signalinversion der Vestibularsignale erfolgte doppelt, in zwei voneinander unabhängigen Subsystemen. So konnte ein Teilsystem ausfallen, ohne dass die vestibuläre Steuerung verloren ging.

Die erste Signalinversion der Vestibularsignale erfolgte im Vestibularsystem selbst. Das zur Inversion nötige Dauersignal lieferte der Nucleus Deiters, der als Mittelwertkern dieser Etage fungierte. Er lieferte das erforderliche Mittelwertsignal.

Die zweite Signalinversion erfolgte auf der Höhe des siebenten Segments.

Den ersten Schritt für beide Varianten übernahm der Purkinjekern. Er erhielt alle erregenden Vestibularsignale, die über den Nucleus ruber zum Nucleus olivaris und von dort zum Nucleus Purkinje der Gegenseite zogen und schaltete sie auf den hemmenden Transmitter GABA um (die gleichen Signale zogen natürlich auf den Konnektivneuronen der Klasse 5 zu den gleichseitig gelegenen Motoneuronen).

Ein Teil der Outputsignale des Purkinjekerns war signalverwandt mit dem Output des Vestibularsystems, es waren die invertierten Vestibularsignale. Sie zogen auf den Axonen der Purkinjezellen wieder kopfwärts in Richtung des Vestibularsystems. Dort kontaktierten sie (im Verlaufe eines länger andauernden Evolutionsprozesses) die Mittelwertneuronen des Nucleus Deiters, der damals ein reiner Mittelwertkern war, und hemmten deren Erregung relativ. Dadurch wurde eine Signalinversion hervorgerufen, deren Ergebnis erregende Signale waren. Die Signalinversion überführte die minimumcodierten Vestibularsignale in maximumcodierte und erregende Signale. Diese waren dadurch für die motorische Ansteuerung der Motoneuronen sehr brauchbar und ersetzten die ursprünglichen Vestibularsignale, bis nur noch sie verwendet wurden. Hingewiesen werden sollte darauf, dass die auf- und absteigenden Vestibularsignale jeweils die Kreuzungsetage durchlaufen müssen und dadurch die Seiten wechseln.

Das zur Inversion notwendige Dauersignal wird innerhalb des Nucleus Deiters erzeugt von sehr auffälligen Riesenneuronen (Durchmesser 40-70 μm). Diese saugen den Input des Kerns in sich auf und bilden daraus ein Dauersignal. Sie sind noch heute stumme Zeugen der ursprünglichen Mittelwerttätigkeit dieses Kerns.

Theorem des Funktionswandels des Nucleus Deiters

Der Nucleus Deiters dient der Signalinversion der vestibulären Signale des Neovestibularsinnes, so dass diese maximumcodiert sind. Das nötige Mittelwertsignal bildet der Kern selbst aus seinem Input, er war ursprünglich der vestibuläre Mittelwertkern.

Wir bezeichnen den Nucleus Deiters als Inversionskern, da er eine Signalinversion des Inputs bewirkt.

Im Verlaufe der Evolution bildete sich eine zweite Inversionsschaltung auf der Höhe des siebenten Segments aus. Der zugehörige Mittelwertkern auf der Höhe des Nucleus ruber war bereits vorhanden und wird als Formatio reticularis bezeichnet.

Theorem der Formatio reticularis als Mittelwertzentrum des Hirnstamms

Die Formatio reticularis ist ein Mittelwertzentrum des Eingangssegmentes des Urhirns und erzeugt ein stabiles Mittelwertsignal.

Die hemmenden Axone des Nucleus Purkinje verliefen auf der Höhe des Nucleus ruber zum gegenseitigen Nucleus ruber, wo sie hemmend wirkten. Im Verlaufe der Evolution konnten sie neue Mittelwertneuronen der Formatio reticularis okkupieren, die sie relativ hemmten. Die Outputsignale dieser Neuronen waren nun die invertierten Vestibularsignale, sie waren jetzt maximumcodiert. Daher waren sie (ebenfalls) für die vestibuläre Lagekorrektur geeignet. Diese Signale mussten nur noch den Weg zu den Motoneuronen finden. Da diese Signale aus sensorischen, vestibulären Signalen abgeleitet waren, wurden sie im Neuralrohr ebenfalls wie sensorische Signale behandelt. Sie kontaktierten (neu gebildete) Konnektivneuronen der Klasse 4, die kopfwärts projizierten. Im obersten, cortikalen Segment wechselten diese Signale über die Kommissurneuronen der Klasse 3 zur motorischen Seite. Dort kontaktierten sie motorische Konnektivneuronen der Klasse 5, die abwärts zu den Motoneuronen projizierten. Damit war die vestibuläre Lagekorrektur als Schaltung vollständig und funktionsfähig.

Somit verfügte auch die cortikale Ebene über die Steuersignale des Neovestibularsinnes und konnte sie einer weiteren Auswertung zuführen.

Bemerkenswert ist die hemmende Projektion des Purkinjekerns in den Nucleus Deiters. Als sich aus dem Purkinjekern das Cerebellum herausbildete, blieb diese Projektion eine der wenigen, bei der die Purkinjezellen als Projektionsneuronen direkt hemmend in eine andere, relativ weit entfernt liegende Struktur projizierten.

Im Verlaufe der Evolution zerfiel die Formatio reticularis in zwei unabhängig agierende Subkerne. Der erste Kern blieb bei der Bereitstellung der Mittelwertsignale und bildete weiterhin die Formatio reticularis. Der zweite Kern bestand aus denjenigen Mittelwertneuronen, die von den Neuronen des Purkinjekerns relativ gehemmt wurden. Dieser Kern wurde der Nucleus fastegii. Er erhielt einerseits seine Mittelwertsignale weiterhin von der Formatio reticularis und andererseits den hemmenden Input vom Purkinjekern. Sein Output waren die invertierten Vestibularsignale. Dieser Nucleus fastegii war der zweite Schritt auf dem Weg zu einem Cerebellum. Der erste Schritt war die Herausbildung des Purkinjekerns, der sich zur späteren Kleinhirnrinde entwickeln würde. Der Nucleus fastegii wurde der erste und früheste Cerebellumkern.

Diese invertierten Vestibularsignale befanden sich jedoch durch den olivären Seitenwechsel auf der falschen Körperseite. Die Outputaxone des Nucleus fastegii erreichten dort die Innenseite des Neuralrohrs und wurden so behandelt wie alle sensorischen Inputaxone. Sie kontaktierten neue Konnektivneuronen der Klasse 4 und schlossen sich den aufsteigenden Axonen der übrigen Konnektivneuronen an. Diese zogen bekanntlich nach oben in Richtung der cortikalen Etage, wobei sie zuvor die Kreuzungsetage durchlaufen mussten, wo sie die Körperseite wechselten und zur kontralateralen Seite kreuzten. Auf diese Art wurde die vestibuläre Signalkreuzung auf der Ebene des Nucleus olivaris rückgängig gemacht. Die eintreffenden, invertierten und erregenden Vestibularsignale zogen zur cortikalen Wendeetage. Auf ihrem Weg dorthin kamen sie am bisherigen Nucleus Deiters vorbei und dockten an genau den Konnektivneuronen an, die bereits die invertierten und erregenden Vestibularsignale darstellten. Somit waren diese Signale dort quasi doppelt verfügbar.

Der Nucleus Deiters (Nucleus vestibularis lateralis) wurde der Ausgangskern des Vestibularsystems, seine Outputsignale sind maximumcodiert. Er projiziert (unter anderem) über den Tractus vestibulothalamicus über den Thalamus zur cortikalen Wendeetage. Über Konnektivneuronen gelangen die Signale zur motorischen Cortexseite und von dort absteigend über den Nucleus ruber zu den Motoneuronen. Diese werden nun seitenrichtig mit dem invertierten (und erregenden) Vestibularoutput angesteuert und führen zu sinnvollen Korrekturbewegungen.

Wenn in einem bestehenden Kern eine Differenzierung der Neuronen stattfindet und eine Gruppe von differenzierten Neuronen sich von diesem Kern räumlich abspaltet, so bezeichnen wir den neu entstehenden Kern als Abkömmling des alten Kerns. Wir können zur genaueren Präzisierung auch angeben, von welchen Neuronen der neue Kern ein Abkömmling ist. Dies erlaubt uns die folgenden Aussagen.

Theorem der Abkömmlinge des Nucleus ruber und des Nucleus reticularis

Der Nucleus Purkinje ist ein Abkömmling der hemmenden Interneuronen des Nucleus ruber. Er erhält seinen Input vom Nucleus olivaris und projiziert hemmend zur Gegenseite in den Nucleus fastegii.

Der Nucleus fastegii ist ein Abkömmling der Mittelwertneuronen des Nucleus reticularis und ist ein Inversionskern. Er erhält den zu invertierenden Input vom Purkinjekern und die erforderliche Mittelwerterregung vom Nucleus reticularis und projiziert erregend teils aufsteigend zum Thalamus und teils zum Nucleus ruber.

Theorem der Entstehung des Vestibulocerebellums

Das urtümliche Vestibulocerebellum wurde gebildet aus dem Purkinjekern und dem Nucleus fastegii. Sein Input entstammte dem Nucleus olivaris, der seinen Input aus dem Vestibularsystem über den Nucleus ruber der Gegenseite erhielt. Der Nucleus fastegii erhielt sein Mittelwertsignal aus der Formatio reticularis und reichte dieses an jedes seiner Inversionsneuronen weiter, die ihrerseits von den Vestibularsignalen gehemmt wurden, da diese zuvor in der Olive auf GABA umgeschaltet worden waren. Der Output des Nucleus fastegii war der invertierte Output des Neovestibularsinnes. Er war durch die Signalinversion maximumcodiert und wurde zur motorischen Korrektursteuerung der Körperlage verwendet.

Das urtümliche Vestibulocerebellum bestand nur aus Purkinjezellen. Mehr war für eine Signalinversion nicht nötig. Die Herausbildung von Korbzellen, Sternzellen, Golgizellen und Körnerzellen samt Parallelfasern erfolgte in einem evolutionär viel späteren Zeitpunkt. Der Grund dafür war jedoch bereits jetzt gegeben: In allen neuronalen Kernen bildeten sich hemmende Interneuronen, die der Kontrastverstärkung zwischen den Signalen dienten.

Theorem der Signalinversion im Nucleus fastegii

Der Nucleus fastegii dient der Signalinversion der Signale aus dem Purkinjekern.

Daher bezeichnen wir den Nucleus fastegii auch als Inversionskern.

Die invertierten Vestibularsignale standen nun doppelt zur Verfügung: erstens als Output des Nucleus Deiters und zweitens als Output des Nucleus fastegii. Letzteres sollte für die künftigen Wirbeltiere bedeutsam werden, da dessen Signale den Cortex erreichten. Als sich viel später neue Rumpf- und Extremitätenmuskel bildeten, konnten diese im Cortex mit den vestibulären Signalen in Wechselwirkung treten, auch wenn die Berücksichtigung dieser Signale im Nucleus Deiters nicht mehr möglich war, weil dieser Kern inzwischen eine sehr konservative Struktur geworden war und sich nicht mehr verändern konnte.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan