Theorie der neuronalen Schaltung des Gehirns

und des analytischen Denkens

ISBN 978-3-00-037458-6
ISBN 978-3-00-042153-2

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

Teil 2.3. Basalganglienerkrankungen und die tiefe Hirnstimulation

Obwohl noch relativ unverstanden, wird die tiefe Hirnstimulation bei Basalganglienerkrankungen teilweise erfolgreich eingesetzt. Dieser Abschnitt versucht, die verschiedenen schaltungstechnischen Ursachen von Basalganglienerkrankungen zu analysieren. Wodurch diese schaltungstechnischen Veränderungen erzeugt wurden, kann hier nicht beurteilt werden. Aber es kann gezeigt werden, welche Schaltungsveränderung zu welchen Problemen führt und wie diese durch eine tiefe Hirnstimulation beeinflusst werden können. Insbesondere wird sich zeigen, dass die tiefe Hirnstimulation in bestimmten Fällen längerfristig unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen kann.

Im Zuge dieses Abschnitts soll ebenfalls geklärt werden, welche Aufgaben die bisher nicht besprochenen Projektionswege im Basalganglienmodell zu Skizze 2.1 und 2.2 haben.

Zunächst hängt die fehlerfreie Funktionsweise der Basalganglien von einem unscheinbaren Neuronenkern ab, der mit seiner Aktivität alle nachfolgenden Aktivitäten erst ermöglicht. Dieser Schlüsselkern ist der Nucleus subthalamicus. Nach Theorem 1.5 ist der Nucleus subthalamicus ein positiver Einssignalkern.

Wir rekapitulieren: Alle Signalneuronen eines Cortexclusters projizieren erregend auf ein Mittelwertneuron der Schicht V der Cortexrinde des Clusters. Die Mittelwertneuronen größerer zusammenhängender Cortexgebiete projizieren erregend in den Nucleus subthalamicus auf ein Mittelwertneuron zweiter Stufe, welches aus diesem Input ein Dauersignal erzeugt. Dieses daueraktive Signal ist unser Einssignal. Es repräsentiert die (meist immer vorhandene) mittlere Erregung eines größeren Cortexareals aus vielen kleinen Cortexclustern.

Dieses Einssignal wird für die Negation der Signale der Signalneuronen des Cortex benötigt, aber auch die Mittelwertsignale werden mit Hilfe der Einssignale des Nucleus subthalamicus negiert.

Wir zählen hier zur Erinnerung die einzelnen Negationskerne auf, die einen erregenden Input vom Nucleus subthalamicus benötigen:

-          Globus pallidus interna im Striosomensystem, erzeugt die Kletterfasersignale des magnocellularen Systems

-          Nucleus pedunculopontinus im Striosomensystem, erzeugt den Input für die Auflösungspyramide nach Ramacher

-          Globus pallidus externa im Matrixsystem, nötig für die zweite Negation der Elementarsignale des Cortexclusters

-          Substantia nigra pars reticulata im Matrixsystem, notwendig für die dritte Negation der Elementarsignale des Cortexclusters

-          Nucleus pedunculopontinus im Matrixsystem, erforderlich für die vierte Negation der Elementarsignale des Cortexclusters auf ihren Weg zum Thalamus VA/VL

Ein Ausfall der Mittelwerterzeugung und damit der Einssignalerzeugung im Nucleus subthalamicus hat also verheerende Folgen im Basalgangliensystem. Es entfällt die Kletterfasersignalerzeugung für das Neuerlernen von Komplexsignalen und auch die Fähigkeit der Bindung verschiedener, aber zusammengehöriger Objekte zu einer Einheit.

Es entfällt auch die kognitive Fähigkeit der Objekterkennung anhand verkleinerter Abbilder innerhalb der Auflösungspyramide.

Ebenso können die Elementarsignale aus dem primären Cortex die ihnen zugeordneten sekundären Cluster im Cortex bzw. die primären Cluster im Cerebellum nicht erreichen, da sie wegen des Wegfalls der erforderlichen vierfachen Negation gar nicht mehr gebildet werden. Damit aber fällt das System der Assoziativmatrizen des Cerebellums ebenso aus wie die Fähigkeit zur Zeitdetektion in der sekundären Cortexrinde. Letzteres, also die Erkennung zeitlich zusammenhängender Signalfolgen, ist stark vermindert und hat zunächst sehr deutliche Auswirkungen im Hinblick auf die Ausführung zusammenhängender Bewegungen. Daher sind motorische Störungen – ein Einfrieren des Systems – die ersten schweren Anzeichen für den Ausfall der Funktion des Nucleus subthalamicus.

Es ist wie bei einem Computer. Der Ausfall der Einssignalbildung im Nucleus subthalamicus ist vergleichbar mit dem Ausfall der Taktfrequenz eines Computers. Der Computer friert ein!

Der Wegfall der zeitverzögerten Signale hat aber auch kognitive Ausfälle zur Folge, da nunmehr zeitlich verbundene Abläufe oder Signale nicht neu erlernt werden können. Ebenso können bereits erlernte Zeitfolgensignale nicht mehr ordentlich rekapituliert werden. Das Erinnerungsvermögen leidet also ebenso wie das Neulernvermögen. Und alles wegen des Ausfalls der Dauererregung – des neuronalen Einssignals – im Nucleus subthalamicus.

Daher ist ein durchaus verständlicher Behandlungsansatz in diesem konkreten Falle die künstliche Zufuhr eines erregenden Dauersignals zum Nucleus subthalamicus. Hierbei wird eine Elektrode ins Gehirn des Patienten eingepflanzt, die den Nucleus subthalamicus mit einer geeigneten elektronischen Frequenz stimuliert. Dieses Verfahren wird als tiefe Hirnstimulation bezeichnet und ist nicht nur auf das Kerngebiet des Nucleus subthalamicus begrenzt. Auffällig ist, dass vorwiegend die Kerngebiete des Basalgangliensystems für die tiefe Hirnstimulation ausgewählt werden.

Die tiefe Hirnstimulation des Nucleus subthalamicus wird also, wenn die Basalganglientheorie des Autors zutrifft, vor allem dann nutzbringend sein, wenn im Nucleus subthalamicus die Einssignalbildung zu schwach ist oder teilweise bzw. völlig ausgefallen ist.

Eine mögliche Ursache in diesem Falle ist das Fehlen der Signale von den Mittelwertneuronen der Schicht V der Cortexrinde. Ob diese Neuronen ihre Outputfähigkeit verloren haben oder ob durch eine mögliche Demyelinisierung die Reichweite der Aktionspotentiale dieser Neuronen stark abgenommen hat, kann nur vor Ort am Patienten selbst abgeklärt werden. Diese Monografie liefert nur die theoretischen Analysen der Auswirkung von Schaltungsstörungen innerhalb des Basalgangliensystems. Fassen wir also die erste Erkenntnis in einem neuen Theorem zusammen:

Theorem 2.10: Die tiefe Hirnstimulation des Nucleus subthalamicus bei Störungen der Einssignalbildung

Wenn im Nucleus subthalamicus die Einssignalbildung gestört oder ausgefallen ist, können die dadurch verursachten Störungen in der Arbeit der Basalganglien durch eine tiefe Hirnstimulation des Nucleus subthalamicus vermindert werden.

Die mittlere Frequenz der verschiedenen Einssignale des Nucleus subthalamicus hängt von der mittleren Aktivität der zugeordneten Großhirnrindengebiete ab. Dies kann bei einer externen Signalzuführung (zurzeit) nicht berücksichtigt werden.

In der Skizze 2.1 des Striosomensystems gibt es eine bisher nicht erklärte erregende Projektion des Nucleus centromedianus (3) zu den Striosomen (2). Welche Aufgabe hat die Natur dieser Projektion zugeordnet?

Der Cortex ist nicht immer aktiv. Es gibt Phasen geringerer Aktivität, z. B. bei körperlicher Ruhe oder beim Schlaf. Aber auch eine schwere Krankheit – z. B. ein Koma – vermindert die Aktivität des Cortex ganz beträchtlich. Es gibt unfall- oder krankheitsbedingte Ausfälle der Aktivität der Großhirnrinde, auch chemische Stoffe können die Großhirnrinde lahmlegen.

In all diesen Fällen erhält der Nucleus subthalamicus kaum noch erregende Mittelwertsignale aus dem Cortex. Daher fällt sein Einssignal aus oder wird in einigen Teilgebieten zu schwach. Dann würde der lebensnotwendige Systemtakt des Gehirns zum Erliegen kommen.

Für diese Fälle hat die Natur vorgesorgt: Ein erregender Zustrom von Signalen aus dem Nucleus centromedianus zu den striosomalen Neuronen und auch zur Substantia nigra pars compacta bringt das System wieder zum Anspringen. Daher kann eine tiefe Hirnstimulation des Nucleus centromedianus bei Komapatienten durchaus positive Resultate haben.

Doch darf in diesem Falle kein elektronisches Dauersignal (Einssignal) in diesen Kern eingespeist werden, sondern nur der neuronale Systemtakt, wie er im Schwingkreissystem der Striosomen entsteht. Denn ein Dauersignal würde zur ununterbrochenen Erzeugung von Aktionspotentialen in den Neuronen der Striosomen führen. Deren ununterbrochenes Feuern würde die Substantia nigra pars compacta dauerhaft hemmen. Dadurch würde der neuronale Systemtakt des Striosomensystems völlig zusammenbrechen. Es darf hier also über die tiefe Hirnstimulation nur ein neuronaler Systemtakt wie in Skizze 1.19 dargestellt verwendet werden.

Die Natur hat dieses Problem erkannt und hat vorsorglich eine hemmende Verbindung von Globus pallidus interna (5) zum Thalamus centromedianus (3) geschaltet. Dadurch wird ein ununterbrochener Zustrom von centromedianem Input zu den Striosomen zeitlich immer genau dann unterbrochen, wenn er unerwünscht ist und den striosomalen Systemtakt stören würde. Der Wegfall dieser hemmenden Verbindungen könnte ein schaltungstechnischer Fehler sein, der zu einem hemmenden Dauersignal von den Striosomen zur Substantia nigra pars compacta führt und den striosomalen Systemtakt zusammenbrechen lässt. Man hat bei einer künstlich herbeigeführten Hemmung des Nucleus centromedianus zu beachten, dass diese periodisch und zeitversetzt zur Aktivität der Substantia nigra zu erfolgen hat. Auch eine externe Erregung des Centromedianus muss periodisch und taktgenau erfolgen, wobei der Grundtakt von der Substantia nigra pars compacta vorgegeben wird. Diese ist wegen der dendrodendritischen Kopplung der dopaminergen Neuronen teilweise autoerregt und unterliegt in der Aktivität dem striosomalen Systemtakt.

Im Matrixsystem gibt es eine Analogie (Skizze 2.2). Liefert der Cortex (1) nicht genug Erregung für die Hauptneuronen der Matrix (2), so wird versucht, dies zu kompensieren. In diesem Falle liefert der Thalamus VA/VL (3) dann den erregenden Input, damit die Hauptneuronen der Matrix ihre nötige Einssignalerregung bilden können. Damit das System stabil bleibt, hemmt in diesem Falle die Substantia nigra pars reticulata den Thalamus VA/VL.

Durch die zusätzliche Zufuhr erregender Signale vom Thalamus und eine zusätzliche rekurrente Hemmung dieses Thalamus entstehen im System zusätzliche Rückkopplungen, die zur Bildung von Resonanzen führen können. Dadurch werden – meist bei Schaltungsstörungen – zusätzliche Eigenschwingungen des Systems veranlasst, die in der Neurologie als Tremor bezeichnet werden. Eine von der Natur gewollte und eigens erfundene Eigenschwingung ist der striosomale Systemtakt, der die Grundlage für die Erzeugung des magnocellularen Kletterfasersignals ist.

Jede Rückführung eines Signals in einen seiner Ursprungsorte kann also Eigenresonanzen erzeugen, die sich auch in realen Schwingungen bemerkbar machen, die dem System zusätzlich zu den normalen Signalen aufgeprägt werden.

Da innerhalb des Nervensystems verschiedene Signale über verschiedene Rückkopplungswege zu ihren Ursprungsorten zurückgeführt werden, wobei die zeitlichen Verzögerungen der betreffenden Aktionspotentiale unterschiedlich sind, entstehen verschiedene Tremor-Arten. Meist erfolgt die Rückkopplung durch rekurrente Hemmung der ursprünglich erregenden Signale.

Selbstverständlich kann im Hinblick auf die tiefe Hirnstimulation ein externes Einssignal in jeden Kern eingespeist werden, der normalerweise seine Einssignalerregung vom Nucleus subthalamicus bezieht. Es gibt aber bei der tiefen Hirnstimulation neben den positiven Effekten aus systemtheoretischer Sicht gewisse zu erwartende Nebenwirkungen.

Durch die externe Zufuhr eines elektronischen Einssignals über eine Elektrode (oder über sehr wenige Elektroden) wird die Aktivität des Nucleus subthalamicus gleichgeschaltet. Es gibt normalerweise immer Gebiete, die aktiver sind und deren Einssignal stark feuert, während andere Gebiete inaktiver sind und weniger feuern. Es kann sogar Teilgebiete im Nucleus subthalamicus geben, die fast gar nicht feuern. Z. B. die gustatorischen Gebiete, die ihren Mittelwertinput aus dem Großhirngebiet erhalten, welches die Geschmacksinformationen auswertet. Diese sind bekanntlich nur dann richtig aktiv, wenn wir etwas essen oder trinken.

Durch das extern zugeführte Signal bei der tiefen Hirnstimulation wird dem Nucleus subthalamicus vorgegaukelt, alle oder viele Gebiete seien neuronal aktiv. Dies ist besonders ungünstig bei Gebieten, die gerade inaktiv oder nur schwach aktiv sind. Denn aus dem Einssignal wird die Kletterfaser-Grundfrequenz abgeleitet. Das Kletterfasersignal entsteht durch zeitweiliges Austasten (zeitweiliges totales Unterdrücken) genau der neuronalen Dauerschwingung des Nucleus subthalamicus.

So entstehen auf Dauer durch die tiefe Hirnstimulation starke Kletterfasersignale dort, wo sonst keine entstehen würden. Plötzlich werden schwache Signale ebenso behandelt wie starke Signale. Neue Komplexsignale werden in den Purkinjezellen abgespeichert, die dort sonst nie gespeichert worden wären. Z. B. könnte das leise Ticken einer Uhr per Kletterfasersignal mit der gerade abgespielten Musik verknüpft und in die Purkinjezellen eingebrannt werden. Später stört gerade dieses gespeicherte Ticken den Musikgenuss. Aber auch andere „Zwangskoppelungen“ sonst völlig unabhängiger Signale könnten auftreten. Darunter leidet dann die Kognition. Z. B. könnte Leseschwäche auftreten, oder beliebige andere Defizite (Bewegungsstörungen im Raum, Orientierungsprobleme,...). Die Erforschung der tatsächlichen Nebenwirkungen der tiefen Hirnstimulation steht erst am Anfang. Hier kann die vom Autor entwickelte und in dieser Monografie vorgestellte Theorie der Basalganglien sicherlich theoretische Hilfestellung leisten. Sollte dies zutreffen, wäre dies ein erneuter Beweis für die Anwendbarkeit mathematischer Theorien in der Alltagspraxis.

ISBN 978-3-00-037458-6
ISBN 978-3-00-042153-2

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan