Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

4.8  Die Veränderung der neuronalen Körpermodelle nach der Herausbildung der Signaldivergenz

Mit der Herausbildung der Signaldivergenz im Nucleus olivaris kam es zu einer starken Veränderung der neuronalen Körpermodelle  im Wirbeltiergehirn. Wir erinnern uns daran, dass wichtige neuronale Kerne und Strukturen als Körpermodelle  interpretiert werden können, so der Nucleus olivaris, die Cerebellumrinde, die Kleinhirnkerne, der Nucleus ruber, die Thalamuskerne oder die Cortexrinde.

Die Signaldivergenz hatte Auswirkungen auf die räumliche Anordnung und die Topologie sowohl im Nucleus olivaris als auch im Spinocerebellum, in den Cerebellumkernen, dem Thalamus und im Frontalcortex. Der Nucleus olivaris hatte zunächst, ähnlich wie das Rückenmark, aber auch der Tierkörper, eine Art bilateral symmetrische Schlauchform .

Anfangs besaß ein einfaches Beugegelenk zwei Muskeln. Wenn jeder von ihnen zunächst nur eine Muskelspindel besaß, waren diesem Gelenk zwei Muskelspindeln zugeordnet. Jede der zwei Muskelspindeln kontaktierte im Nucleus olivaris ein Projektionsneuron.

Falls im Verlauf der Evolution die beteiligten Muskeln mehrere Muskelspindeln hervorbrachten, wurde dieses Gelenk im Nucleus olivaris durch eine Doppelreihe zueinander parallel angeordneter Projektionsneuronen repräsentiert, die in Längsrichtung angeordnet waren. Am Ende der Doppelreihe begann eine weitere Doppelreihe von Projektionsneuronen, die das nächste Gelenk auf die gleiche Art repräsentierte. Darauf folgte das nächste Gelenk usw. Und da speziell Rumpfmuskeln um den gesamten Rumpf angeordnet waren, gab es neben jeder Doppelreihe von Projektionsneuronen weitere Doppelreihen für die übrige Rumpfmuskulatur.

So bestand die Oberfläche des Nucleus olivaris aus Doppelreihen von Projektionsneuronen , die die Muskelpaare der Gelenke in einem motorischen Körpermodell repräsentierten. Wegen der Bilateralität zerfiel der Nucleus olivaris dabei in zwei symmetrische Hälften. Diese Anordnung änderte sich erst, als Extremitäten gebildet wurden. Da bekam das schlauchförmige Gebilde Nebenschläuche , die die Extremitäten repräsentierten.

Die Projektionsneuronen des Nucleus olivaris kontaktierten die Projektionsneuronen des Kleinhirnkerns, der so ebenfalls zum motorischen Körpermodell wurde. Und seine Projektionsneuronen übertrugen dieses Körpermodell auf die Purkinjezellen der Cerebellumrinde. Diese bestand nun auch aus parallel zueinander ausgerichteten Doppelreihen von Purkinjezellen, jedes Purkinjepaar repräsentierte je zwei Muskelspindeln eines Gelenks. Muskelspindeln des gleichen Gelenks folgten unmittelbar aufeinander. Die direkte Projektion des Spinocerebellums über den Thalamus in den Frontalcortex übertrug dieses Körpermodell auch auf den Cortex, hier verliefen die Doppelreihen von unten nach oben.

Mit der Entwicklung der Signaldivergenz wurden diese Doppelreihen durch Mehrfachreihen ersetzt. Die Signale des Neuronenpaares, welches je ein Muskelspindelpaar repräsentierten, wurden durch Signaldivergenz im Nucleus olivaris auf beispielsweise 3 Projektionsneuronen verteilt, später vielleicht auf 4, 5, 6, und viele Jahrmillionen später vielleicht auf 100. So entstand aus den Doppelreihen von Projektionsneuronen Dreifachreihen, Vierfachreihen, Fünffachreihen, Sechsfachreihen, und am Ende einhundert parallele Reihen von Neuronen. Sie waren im Nucleus olivaris wie zuvor in Längsrichtung angeordnet. Hier hatte sich der Nucleus olivaris wegen der Bilateralität bereits geteilt in einen linken und einen rechten Halbschlauch, so dass es diesen Kern zweifach gab. Die starke Zunahme der Neuronenanzahl führte zum sackartigen Aufblähen dieser Strukturen.

Analog wurden die Doppelreihen im Cerebellum ersetzt durch die Mehrfachreihen. Der Platzbedarf führte dazu, dass sich auch die Cerebellumrinde aufblähte und Falten bildete, die als Cerebellumwindungen sichtbar wurden. Jede Windung diente einem Gelenk. In Querrichtung angeordnet waren die Neuronen, die aus der Signaldivergenz hervorgegangen waren. In Längsrichtung dagegen befinden sich zunächst die Neuronen, die der gleichen Muskelgruppe zugeordnet sind, gefolgt von denen der folgenden Muskeln und Gelenke.

Der Frontalcortex war ein Abbild dieses Spinocerebellums, welches auch in zwei bilaterale Anteile zerfiel. Die Mehrfachreihen von Purkinjezellen projizierten zu Mehrfachreihen von Cortexneuronen, die hier senkrecht verliefen. Analoges gilt für die Signale der übrigen Rezeptoren, die meist in einer On- und einer Off-Variante den Nucleus olivaris und die Folgestrukturen erreichen. Daher sind die verschiedenen Modalitäten im Frontalcortex in senkrecht verlaufenden Modalitätenstreifen angeordnet und stellen Körperabbilder der Rezeptoren dieser Modalitäten dar. Die Signaldivergenz wirkt sich hier in der Waagerechten aus. Dies ist der Grund für die enorme räumliche Ausdehnung und dem Übergang von der wurmförmig länglichen zur halbkugelähnlichen Form  sowohl in den Neuronenkernen als auch in den Neuronenschichten des Cerebellums und des Cortex.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan