Teil 2.8. Der Videospeicher des Cerebellums

Bevor die etwas zeitkritische Funktionsweise eines (möglichen) neuronalen Videospeichers vorgestellt wird, sollten wir einen anderen zeitkritischen Vorgang im Cerebellum exakter überprüfen.

Welchen Output liefert das Cerebellum während des Zeitabschnittes, den wir als Prägung einer Purkinjezelle bzw. einer Purkinjegruppe bezeichnen?

Diese Frage ist sehr wichtig, weil der Output der Kleinhirnkerne verwendet wird, um eine sequentielle Abspeicherung zu ermöglichen. Welchen Output liefern die Outputneuronen des Cerebellums während dieser Prägungsphase?

Die Kernneuronen einer ungeprägten Purkinjegruppe liefern nach Theorem 1.41 als Output das Nullsignal fKN,U = 0. Die Kernneuronen einer geprägten Purkinjegruppe liefern nach Theorem 1.41 eine Feuerrate fKN,G = fP + ½ min( fP; fR). Hierbei ist fp die Signalstärke des Prägungssignals der Purkinjegruppe, während fR die Restsignalstärke repräsentiert.

Wir müssen daher davon ausgehen, dass sich die Feuerrate der Outputneuronen (Kernneuronen) einer Purkinjegruppe während der Prägungsphase vom Wert fKN,U = 0 auf den Wert fKN,G = fP + ½ min( fP; fR) erhöht. Dabei hängt der Output vom anliegenden Signal ab. Der Teil des Inputs, der ein Teilsignal des Eigensignals der Purkinjegruppe ist, erhöht die Feuerrate des Outputs, während der Teil, der dem Fremdsignal zugeordnet werden muss, die Feuerrate anteilig erniedrigt.

Je mehr sich die (relativ kurze) Prägungsdauer ihrem Ende nähert, umso mehr nähert sich der zugehörige Output der Kernneuronen dem Wert einer endgeprägten Purkinjegruppe. Da aus dem Output des negativen Kernneurons das Hemmungssignal für die zugehörige Kletterfaser abgeleitet wird, ist diese Hemmung mit zunehmender Prägung stärker und ist am Prägungsende vollkommen. Die Kletterfaserhemmung verhindert, dass das anliegende Prägungssignal eine weitere Purkinjegruppe mit dem gleichen Signal prägen kann. Somit schaltet eine Purkinjegruppe während der Prägung das zugehörige (prägende) Kletterfasersignal genau dann vollkommen ab, wenn die Prägungsphase beendet ist.

Theorem 2.18: Output der Kleinhirnkernneuronen einer Purkinjegruppe während der Prägung

Zu Beginn der Prägung einer Purkinjegruppe ist der Output der Kernneuronen das Nullsignal und nähert sich während der Prägung schrittweise demjenigen Wert, den die endgeprägte Purkinjegruppe als Output liefert.

Nach diesen Betrachtungen erscheint es nötig, sich prinzipielle Gedanken zu machen über die Anfertigung eines Videofilmes an sich. Nehmen wir also an, wir hätten eine Videokamera, die uns pro Sekunde beispielsweise 30 Bilder aufnimmt.

Wollen wir jedes Bild wegspeichern? Oder möchten wir aus der Reihe der Bilder nur diejenigen auswählen, die voneinander verschieden sind.

Das Ergebnis wird davon abhängen. Filmen wir etwa mit einem unbewegten Stativ einen Wald, so wird bei völliger Windstille zunächst einmal jedes Bild so aussehen wir sein Vorgängerbild und wie sein Nachfolgerbild. Anstelle von vielen tausend Bildern pro Stunde reicht also ein einziges (Standbild) aus. Wenn aber Wind die Bäume bewegt, Vögel umherfliegen oder der Förster samt Jagdhund aus dem Wald tritt,  müssen wir uns entscheiden: Soll nun jedes Bild für die Abspeicherung ausgewählt werden oder wollen wir vom Speichern absehen, wenn das Vorgängerbild dem aktuellen sehr gleicht?

Günstig wäre es, festzulegen, wie viel sich von einem Bild zum anderen ändern darf, damit wir das neue Bild als speicherungswürdig ansehen. Die Beurteilung der „Bildähnlichkeit“ sollte ein Algorithmus festlegen.

Ein solches Verfahren nennen wir Ähnlichkeitskomprimierung. Von einer Bildfolge werden nur solche aufeinanderfolgenden Bilder zur Auswahl für eine Speicherung herangezogen, deren Ähnlichkeit nicht zu groß ist. Dadurch wird die Gesamtanzahl der Bilder deutlich kleiner im Vergleich zur zeitgetakteten Speicherung. Bei letzterer werden die Bilder mit konstanter Bildfrequenz aufgenommen.

Wir entscheiden uns, eine neuronale Schaltung für einen Videospeicher zu entwickeln, die die Ähnlichkeitskomprimierung realisiert. Damit ein neues Bild gespeichert wird, muss es dem vorher gespeicherten Bild unähnlich sein.

Hierbei kommt uns das Zusammenspiel der Eigensignaldetektoren des Cerebellums mit den Fremdsignaldetektoren zu Hilfe. Ein gespeichertes Eigensignal wird noch erkannt, wenn der Fremdsignalanteil nicht größer ist als der Eigensignalanteil. Wenn sich also im Bild mindestens 50 Prozent des Inhaltes ändern, wird eine Purkinjezelle dieses Bild nicht mehr erkennen und seine automatische Speicherung der benachbarten, freien Purkinjegruppe überlassen. 50 % erscheinen relativ viel. Aber wir speichern ja in einer Purkinjegruppe nur einen kleinen Bildausschnitt, vielleicht in der Größe einer Briefmarke. Dieser kleinen Fläche entspricht das rezeptive Feld des zugehörigen Cortexclusters. Und etwa 1000 Mal 1000 solcher kleinen rezeptiven Felder könnten das Gesamtbild ergeben. Wenn ein kleiner Vogel angeflogen kommt, wird er die gesamte Briefmarkenfläche (also das rezeptive Feld) völlig überdecken, die Purkinjezelle wird den vorher abgespeicherten Bildinhalt dieses kleinen Bildausschnittes nicht wiedererkennen und die Speicherung des neuen Bildinhaltes in der Nachbargruppe veranlassen.  

Zum Speichern benutzen wir die Purkinjezellen des Cerebellums. Ihr Bildinput kommt aus dem Cortex, beispielsweise aus den primären visuellen Feldern. Wir beschränken uns vereinfachend auf einen Cortexcluster, „filmen“ also nur einen kleinen Ausschnitt aus unserem Gesichtsfeld. Da aber dieses Prinzip bei allen Cortexclustern angewendet wird, erhalten wir dennoch ein Videoabbild der gesamten Umwelt. Es ist ähnlich, als würden wir dutzende oder hunderte Kameras benutzen, von denen jede einzelne nur ein kleines Quadrat aus dem sichtbaren Gesichtsfeld filmt. Das Zusammensetzen der vielen Filme auf einer großen Leinwand würde wieder das Gesamtbild ergeben, wie wenn es nur mit einer Kamera gefilmt worden wäre.

Das Kletterfasersignal zum Abspeichern des ersten Teil-Bildes in der ersten Purkinjegruppe entstammt dem Cortexcluster. Sein magnocellulares Aktivitätsneuron beobachtet die Signalaktivität im Cluster und setzt das Kletterfasersignal in Gang, sobald das mittlere Signalniveau hinreichend stark ist. Das Anschalten des Kletterfasersignals entspricht dem Anschalten der Kamera. Es setzt Signale im Cortexcluster voraus. Aus dem Output des mittelwertbildenden Aktivitätsneurons bildet das Striosomensystem wie beschrieben das Kletterfasersignal auch für das erste Bild des Videospeichers.

Dieses Kletterfasersignal wirkt auf die erste freie Video-Purkinjegruppe. Wenn es etwa eine Sekunde eingewirkt hat, ist die Prägung der prägungsfähigen Signale beendet. Prägungsfähig sind diejenigen Parallelfasersignale, die in diesem Prägungszeitraum ausreichend aktiv waren, also die Mindest-Feuerrate für eine Prägung besaßen.

Wir erinnern uns hier an eine Besonderheit des Kletterfasersignals. Es bestand aus einer hochfrequenten Grundschwingung, die pro Sekunde etwa fünf Mal für die Dauer von etwa 1/10 Sekunde total unterdrückt wurde. Ihre Hüllkurvenfrequenz lag bei etwa fünf Hertz.

Pro Sekunde Prägung haben wir also jeweils fünf „Prägungslücken“ von je etwa 1/10 Sekunde Dauer. In diesen Prägungslücken kann die Purkinjezelle sich entscheiden, ob die Prägung des Prägungssignals bereits stark genug war oder noch fortgesetzt werden muss. Denn wenn die Prägung stark genug war, reagiert die Gruppe der Purkinjezellen, die von diesem Kletterfasersignal versorgt werden, mit einer Antwort. Eine geprägte Purkinjezelle (bzw. Purkinjegruppe) stellt die Hemmung der Kleinhirnkern-Neuronen völlig ein, wenn sie ihr Prägungssignal erkennt. Und genau dieses Prägungssignal liegt ja an den Purkinjezellen gemeinsam mit dem Kletterfasersignal an.

Nach der (kürzeren oder längeren) Einwirkung der „Bildsignale“ werden also die prägungsfähigen von ihnen in der Purkinjegruppe gespeichert sein und diese Gruppe genau dieses Signal erkennen. In diesem Falle meldet das zugehörige erregende Kernneuron im Kleinhirnkern, dass das Bild erkannt wurde und der Prägungsvorgang daher beendet ist.

Umgehend hemmt das GABAerge Kernneuron des Kleinhirnkerns das zugehörige Kletterfasersignal in der Olive, so dass das gleiche Bild nicht in einer anderen Purkinjegruppe gespeichert werden kann. Damit ist das erste Bild unseres Videospeichers fertig.

Wir wollen annehmen, dass sich in den ersten Sekunden nichts am Bild ändert, weil wir beispielsweise den Wald filmen. Dann wird die erste Purkinjegruppe nach ihrer endgültigen Prägung das aktuelle Bild wiedererkennen und dies dem Thalamus mitteilen. Ebenso hemmt das negative Kernneuron das aktuelle Kletterfasersignal.

Wenn plötzlich der Förster aus dem Wald kommt und unvermittelt stehenbleibt, haben wir das zweite speicherungswürdige Bild. Der Förster mit seinem Hund ist das Fremdsignal, welches nunmehr im entsprechenden Bildausschnitt zur Nichterkennung führt. Daher wird die erste Purkinjegruppe das Waldbild mit Förster und Hund nicht erkennen, wenn sich der Waldrand nicht in zu großer Ferne befindet und der Förster dadurch „sehr klein“ erscheint. Nichterkennung des Signals aber führt zur zwangsweisen Abspeicherung des Signals als neues Eigensignal in der Nachbar-Purkinjegruppe ...usw.

Mit diesem Verfahren kann das Cerebellum als primitiver Videospeicher arbeiten. Jedes Bild, welches sich von den Vorgängerbildern deutlicher unterscheidet, wird – bezogen auf die verschiedenen Cortexcluster – abgespeichert.

Dennoch unterscheidet sich dieser cerebellare Videospeicher von einem realen Videospeicher. Dies sei an einem kleinen Beispiel erläutert.

Wenn sich eine bestimmte Bewegungsfolge ständig wiederholt, wird der cerebellare Video-speicher die Folge nur ein Mal speichern. Wird eine Pendeluhr mit einer herkömmlichen Videokamera gefilmt, so schwingt im Film das Pendel so lange hin und her, wie der Film andauert. Beim Cerebellum ist dies nicht der Fall. Erreicht das Pendel der Uhr zum Beispiel erstmalig seine tiefste Stellung und hängt damit völlig senkrecht, so wird davon ein cerebellares Abbild in einer Purkinjezelle eingebrannt. Kommt das Pendel nach genau einer halben Schwingung wieder an die gleiche Stelle, so erkennt die zuständige Purkinjezelle dies und meldet umgehend: Bild erkannt. Dadurch wird das Kletterfasersignal unterdrückt, solange sich das Pendel in dieser (und in ähnlicher, direkt benachbarter) Stellung befindet. Im beschriebenen cerebellaren, primitiven Videospeicher wird also ein Bild nur abgespeichert, wenn es bisher noch nie auftrat. Dadurch wird die intelligente Komprimierung bewirkt, aber der zeitliche Zusammenhang kann dadurch verloren gehen. Daher ist dieses Modell des Videospeichers wirklich nur ein Modell. Seine grundlegende Funktionsweise sei in ein Theorem gefasst.

Theorem 2.19: Primitiver Videospeicher des Cerebellums

Die Cortexsignale aus den Cortexclustern der primären visuellen Felder bewirken im Cerebellum eine automatische Abspeicherung aller voneinander hinreichend verschiedener Bilder in der Reihenfolge ihres ersten zeitlichen Auftretens. Eine mehrfache Abspeicherung gleicher Bilder tritt nicht auf, wodurch eine Ähnlichkeitskomprimierung stattfindet, die jedoch zum Verlust des zeitlichen Zusammenhanges der Einzelbilder führen kann.

Die Frage nach dem Videoformat im Gehirn wird erst beantwortet, wenn der Teil 3 dieser Monografie zur Thematik der Digitalisierung analoger Signale fertiggestellt ist. Dann wird man erkennen, dass sich das neuronale Videoformat nicht allzu sehr vom digitalen Format unterscheidet.

Im Hinblick auf den inversen Videospeicher, der gespeicherte Videosequenzen wieder abspielen kann, so dass sie uns z. B. im Traume erscheinen, benötigen wir zwei neue Begriffe. Zum einen den Begriff der Ähnlichkeitsverkettung.

Der Begriff der „voneinander hinreichend verschiedenen“ Bilder impliziert, dass Videosequenzen zumindest oft stückweise stetig sind. In diesem Falle unterscheiden sich zwei aufeinanderfolgende Bilder zwar, haben aber gemeinsame Bildinhalte, z. B. den gemeinsamen Bildhintergrund. Solche Bilder nennen wir ähnlichkeitsverkettet. Werden solche Bilder in zwei aufeinanderfolgenden Purkinjegruppen abgespeichert, so haben sie eine gemeinsame Teilmenge von Moosfasern, von denen sie beide gleichzeitig erregt werden.

Wird nun später eines der Bilder in einer Purkinjegruppe mit der Nummer k wiedererkannt, so sind auch Eigensignaldetektoren der Nachbargruppen dieser k-ten Gruppe teilweise miterregt. Diese Erregung der Eigensignaldetektoren (Korbzellen, Sternzellen, Golgizellen, Kernneuronen) der Nachbargruppen über die gemeinsamen Moosfasern wollen wir als Nebenerregung bezeichnen. Die Stärke der Nebenerregung hängt von der Anzahl der gemeinsamen Moosfasern ab. Nebenerregte Purkinjegruppen besitzen in ihrer digitalen Signatur an etlichen gleichen Bitpositionen den Binärwert 1, genau dort nutzen ihre Eigensignaldetektoren den Input der gleichen Moosfasern.

Die Ähnlichkeitsverkettung und die dadurch auftretende Nebenerregung sind eine von drei Ursachen für die Funktionsfähigkeit von inversen Videospeichern im Gehirn. Daher fassen wir diese Erkenntnis in ein eigenes Theorem.

Hinsichtlich des Outputs ist festzustellen, dass nebenerregte Korb-, Stern-, Golgizellen und Kernneuronen dadurch stärker erregt werden, während die Purkinjezellen durch diese Eigensignaldetektoren stärker gehemmt werden.

Theorem 2.20: Ähnlichkeitsverkettung und Nebenerregung

Sind benachbarte Purkinjegruppen einer cerebellaren Speicherkette ähnlichkeitsverkettet, so wird eine Signalerkennung in einer Purkinjegruppe parallel dazu zu einer Nebenerregung der Eigensignaldetektoren der ähnlichkeitsverketteten Nachbargruppen führen, weil gemeinsame Teilsignale und somit gemeinsam genutzte Moosfasersignale als Teile der Eigensignale der benachbarten Purkinjegruppen genutzt werden.

 

Bekannterweise gibt es im Gehirn Stellen, bei denen eine Synchronität mit dem Tagesverlauf beobachtet wird, wir verfügen über eine innere Uhr. Wenn also eine analoge Größe im Gehirn die Tageszeit repräsentiert, die entsprechend digitalisiert wird, so stünde diese digitale Größe als Signal an den Parallelfasern des Cerebellums zur Verfügung. Hat dieses Signal eine hinreichende Anzahl von Bits, also Parallelfasern, so wird es mit dem Videosignal abgespeichert. Während der Abspeicherung der Bilder ändert sich der Signalwert des Zeitsignals und wird mitgespeichert. Dadurch werden nunmehr auch Videobilder abgespeichert, die visuell völlig gleich sind, wenn sie nur ein hinreichend verschiedenes Zeitsignal besitzen. Dies ist der Fall, wenn sie zeitlich weiter auseinander liegen, z. B. wenigstens 20 Sekunden. Voraussetzung ist, dass das Zeitsignal eine wirklich größere Anzahl von Binärstellen und damit von Parallelfasern einnimmt. Damit wäre der obige Mangel behoben: Gleiche Videosignale zu verschiedenen Zeitpunkten werden in der Reihenfolge ihres zeitlichen Auftretens abgespeichert. Die Existenz der neuronalen Zeit im Gehirn ist bereits erwiesen. Gezeigt werden muss im Kapitel 3, wie diese analoge Zeitgröße in eine digitale Zeitgröße umgewandelt wird, damit diese erweiterte Variante des Videospeichers realitätsnah ist.

Im Übrigen hätte eine Einbeziehung des auditorischen Inputs ähnliche Wirkungen. Wird mit dem Bildsignal das Tonsignal mitgespeichert, so dürfen Bilder gleich sein, solange sich ihr Ton unterscheidet, um dennoch abgespeichert zu werden. Denn angesichts der zweihunderttausend Parallelfasern ist es durchaus denkbar, dass visuelle und auditorische Signale in den gleichen Purkinjezellen landen, vielleicht sogar olfaktorische (Geruchssignale) und anderes mehr.

Wenn wir hier (rein hypothetisch) die Existenz eines digitalisierten Zeitsignals im Gehirn annehmen, sollten wir die Gründe für diese Annahme nennen.

Im bereits mehrfach zitierten Buch „Das Gehirn“ von Richard F. Thompson vom Spektrum Akademischer Verlag, 3. Auflage 2001 gibt es ein sehr interessantes Kapitel zum Thema „Biorhythmen“. Dort sind viele messbare Parameter in Abhängigkeit vom Tagesverlauf sogar grafisch dargestellt. So wird dort ausgeführt, dass die Rektaltemperatur, der Plasmaspiegel von 17-Hydoxy-Corticosteroiden, die Griffstärke, der Dopaminspiegel, der Catecholaminspiegel und die optische Reaktionszeit einem tageszeitlichen Rhythmus folgen, der sich alle 24 Stunden wiederholt. Der tageszeitliche Verlauf, der von den Neurologen als circadianer Aktivitätsrhythmus bezeichnet wird, hat seine Ursache im Wirken einer inneren Uhr. Hierzu lesen wir auf Seite 216 des gerade genannten Werkes:

(Zitatbeginn)

„Eine übergeordnete Uhr im Gehirn der Säugetiere ist erst vor kurzem identifiziert worden. Es handelt sich um eine Struktur im Hypothalamus, die man als suprachiasmatischen Kern oder Nucleus suprachiasmaticus bezeichnet; wegen der paarigen Anordnung spricht man häufig auch von zwei suprachiasmatischen Kernen oder Nuclei (SCN). Wie schon der Name andeutet, liegen die SCN unmittelbar oberhalb des Chiasma opticum, der Kreuzung der beiden Sehnerven. Relative Größe und Struktur dieser kleinen hypothalamischen Kerne scheinen bei so verschiedenen Lebewesen wie Maus und Mensch im Wesentlichen gleich zu sein. Offensichtlich erfüllen sie ihre Aufgabe bei allen Säugetieren in gleicher Weise. Wird der SCN zerstört, so geht der circadiane Aktivitätsrhythmus bei Säugern vollständig verloren (Abbildung 7.10).“

                                                                                                          (Zitatende)

Damit gibt es also tageszeitliche Aktivitätsschwankungen im Gehirn, deren Digitalisierung den Input für ein neuronales Zeitsignal in den Parallelfasern des Cerebellums liefern könnte. Neben dem circadianen Rhythmus gibt es auch längerfristige, aber auch kürzere Rhythmen, deren Periode deutlich länger bzw. deutlich kürzer ist als der 24-Stunden-Rhytmus. Das Prinzip der Digitalisierung solcher Größen in neuronale Signale wird noch gezeigt werden. An dieser Stelle sei die Existenz solcher binären Zeitsignale im Gehirn bereits vorausgesetzt, weil wir ein Anwendungsbeispiel dafür kennen.

Wir fassen unsere Erkenntnis in ein neues Theorem.

Theorem 2.21. Videospeicher mit digitalem Zeitsignal

Wird zusätzlich zu den visuellen Signalen aus dem Cortex eine digitalisierte Zeitgröße mitgespeichert, so können gleiche oder ähnliche Bildsignale, die zeitlich nacheinander auftreten, auch zeitlich nacheinander abgespeichert werden, wenn der digitalisierte Zeitsignalanteil als Eigensignal eine hinreichende Bitbreite besitzt, also genügend Moosfasern verwendet. Identische Bildinhalte haben dann im Eigensignal einen unterschiedlichen Zeitsignalanteil und stellen für die Purkinjegruppen verschiedene und unterscheidbare Signale dar. Dies gilt auch für die Kopplung der Videosignale mit auditorischen, gustatorischen, olfaktorischen oder motorischen Binärsignalen.

Es wird sich zeigen, dass es mehrere arbeitsfähige Versionen eines Videospeichers gibt, die aus schaltungstechnischen Gründen einen gewissen Realitätswert haben könnten. Mögen Neurologen entscheiden, welche der möglichen Varianten in welchen Gehirnen realisiert worden ist. Denn Videospeicherung ist mit Sicherheit bereits im Tierreich anzutreffen. Wir wollen hier darangehen, den größten Mangel dieses primitiven Videospeichers abzustellen. Es ist ein deutlicher Mangel: Wir können nur Bilder abspeichern, die sich für den kürzest möglichen Prägungszeitraum von mindestens einer Sekunde nicht wesentlich ändern.

Da wir jedoch physisch in der Lage sind, sehr schnelle Veränderungen zum Beispiel in Videoclips zu erfassen, benötigt unser primitiver Videospeicher eine systemtheoretische Verbesserung. Wenn ein Signal nur eine zehntel Sekunde einwirkt, reicht dies für die Prägung nicht aus. Wie könnten wir die Einwirkdauer dieses Signals verlängern?

Hier kommt wieder der Hippocampus ins Spiel. Er ist in der Lage, aus einem kurzen Signal ein länger andauerndes zu erzeugen. Zuerst erzeugt er vom Originalsignal eine Menge primärer Echos mit unterschiedlicher Pausendauer. Anschließend fügt er diese zu einem sekundären Echo zusammen, welches deutlich länger andauert als das Originalsignal. Möge also der Hippocampus helfen, den Videospeicher realitätsnaher zu gestalten.

Jedes videogeeignete Cortexsignal aus den primären visuellen Feldern möge also den Hippocampus erreichen. Dieser möge zu jedem Signal der zeitlichen Länge von 0,1 Sekunden zehn Echos generieren. Dazu läuft das Signal eines jeden Cortexneurons des Clusters auf einer eigenen Moosfaser des Hippocampus entlang. Die Geschwindigkeit der zugehörigen Aktionspotentiale ist gering, z. B. 0,1 m/s.

Wenn die Moosfaser eine Länge von 100 Millimetern besitzt, braucht jedes Aktionspotential für diese Strecke eine Sekunde.

Wenn nun diese Moosfaser an zehn Stellen angezapft wird, entstehen durch die Laufzeitverzögerung auf den Anzapfungsleitungen insgesamt 10 Signale, von denen das erste um 0,1 Sekunde verzögert wird. Das zweite angezapfte Signal kommt mit 0,2 Sekunden Verspätung an. Das letzte habe bereits eine Zeitverzögerung von einer Sekunde.

Alle dieser Anzapfungsleitungen – von den Neurologen als Schaffer-Kollateralen bezeichnet – konvergieren vermittels besser myelinisierter Axonleitungen auf ein gemeinsames CA1-Neuron, welches die zehn zeitversetzt eintreffenden primären Echos von je 0,1 Sekunden Dauer zu einem sekundären Echo von einer Sekunde Dauer vereinigt.

Jedes Signalneuron eines jeden Cortexclusters aus dem visuellen Gebiet hat nun genau ein solches CA1-Neuron im Hippocampus *), welches zu jedem Input ein Echo von etwa einer Sekunde Dauer erzeugt. Dieser Hippocampusoutput projiziert in zugeordnete Felder der Großhirnrinde. Bewiesen ist bereits, dass der Hippocampus über das Territorium anterius des Thalamus in die Großhirnrindenregion projiziert, die als Gyrus cinguli bezeichnet wird. Es ist die unterste, innerste Windung des Großhirns.

Da aber dieser Gyrus cinguli als Großhirnrinde wahrscheinlich den gleichen Aufbau hat wie alle Großhirnrinden, gibt es dort Cortexcluster. Diese projizieren wieder über die Brückenkerne ins Cerebellum. Und das Aktivitätsneuron eines jeden Cortexclusters generiert ein Kletterfasersignal für genau dieses zugeordnete Cerebellumcluster. Dort werden die zeitgedehnten Signale des Hippocampus in die Purkinjezellen eingebrannt.

Während der Originalinput der visuellen Felder auch schnell wechselnde Bildfolgen enthielt, deren Dauer von etwa 0,1 Sekunden für die Prägung zu kurz war, werden diese Signale nun auf die zehnfache Zeitdauer gedehnt. Dadurch werden sie prägungsfähig.

*) Genauer: Es gibt im Hippocampus zu jedem Moosfaserinput eine ganze Reihe von CA1-Neuronen, die zu diesem Signal sekundäre Echos der unterschiedlichsten Zeitdauern bilden. Uns reicht im konkreten Falle ein solches sekundäres Echo von etwa einer Sekunde Dauer.

Dies ist eine Erweiterung des primitiven Videospeichers um die „Zeitlupeneigenschaft“, die zeitliche Auflösung wird besser.

Wir fassen unsere Erkenntnis in ein eigenes Theorem.

Theorem 2.22. Videospeicher mit erhöhter Zeitauflösung

Werden visuelle Signale des Cortex (evtl. mit anderen Signalarten gemeinsam) im Hippocampus in eine Echofolge überführt, indem jedes Einzelsignal mit einer Reihe seiner eigenen zeitversetzten Echos überlagert wird, so sind auch Signale prägungsfähig, deren ursprüngliche Zeitdauer für eine Prägung im Cerebellum nicht ausgereicht hätte. Das sekundäre, zeitgedehnte Echo des Originalinputs erreicht über den anterioren Thalamus den Gyrus cinguli, von dort das zugehörige Cortexcluster und wirkt über die Brückenkerne als Input für ein Cerebellumcluster. In diesem Cerebellumcluster erfolgt die Abspeicherung des zeitgedehnten Videosignals mit größerer Zeitauflösung.

Der Hippocampus hat jedoch nicht nur die Aufgabe, zeitgedehnte Signale bereitzustellen. Die Signalwege im limbischen System deuten direkt darauf hin. Ein weiteres Aufgabengebiet ist die Bereitstellung von primären, kurzen Echos für den Vergleich von Signalen mit sich selbst, um zeitliche Veränderungen zu erkennen. Genau deswegen projizieren die CA1-Neuronen ihre kurzen primären Echos in die regio präoptica, um dort visuelle Bewegungsdetektion zu ermöglichen.

Eine weitere Aufgabe wäre die Prägung von zeitlichen Signalfolgen zu neuen Komplexsignalen, beispielsweise Phonemen zu Wörtern. Ebenso ist der Hippocampus in das dopaminerge limbische System eingebunden. Doch dazu vielleicht später, denn die Funktion der beteiligten Amygdala wird in diese Monografie nicht erklärt. Hier fehlen dem Autor zurzeit die nötigen Fachkenntnisse und die Inspiration, obwohl es Ansätze für ein Modell gibt, welches vor allem die theoretischen Mathematiker begeistern dürfte. Demnach erzeugt die Amygdala in einer vieldimensionalen, aber diskreten Raumwelt, bei der jeder Dimension eine neuronale Modalität entspricht, einen mittleren aktuellen Schwerpunkt. Dabei lassen sich die neuronalen Modalitäten in zueinander konträre einteilen, die gegeneinander wirken.

Beispielhaft seien hier solche konträren Modalitätenpaare aufgezählt: satt-hungrig, hell-dunkel, warm-kalt, müde-wach, leicht-schwer, oben-unten, vorn-hinten, giftig-essbar, süß-sauer, salzig-bitter, gut-schlecht, männlich-weiblich, lebendig-tot.

Als Modalitäten können sie nur zählen, wenn es Rezeptoren für ihre Wahrnehmung gibt oder wenn sie Komplexsignale darstellen, die auf Rezeptorinput beruhen.

Je nach Aktivität der beteiligten Modalitäten wird der aktuelle Schwerpunkt in die eine oder andere Modalitätenrichtung „gezogen“ oder „verschoben“ und ein entsprechender Output erzeugt, wodurch die nachfolgenden Aktivitäten der verschiedenen Subsysteme gesteuert werden. Das Bewusstwerden der „Schwerpunktverschiebung“ entspricht der „Stimmung“. Die Signale dieses Systems sind „Mittelwertsignale“ und entsprechen daher (meist) den „Gefühlen“.

Aber der Hippocampus erzeugt auch Abbilder der Vergangenheit, die in der aktuellen Gegenwart zur Verfügung stehen. Erst dadurch wird uns bewusst, was vor wenigen Sekunden, Minuten, Stunden oder Tagen passiert ist und welche Bedeutung diese Signale der Vergangenheit in dieser aktuellen Gegenwart besitzen. Diese Gedächtnisart wird auch als Langzeitgedächtnis bezeichnet.

Die Entstehung der Sprache benötigt diese Fähigkeit. Der Sinn eines Buchstaben, genauer gesagt eines Phonems, hängt direkt von den zuvor gesprochenen Phonemen ab. Hier erzeugt der Hippocampus durch Echobildung ein in der Gegenwart befindliches Abbild der Vergangenheit. Dieser Arbeitsweise möge jedoch ein neues Kapitel gewidmet werden. Schließlich müsste analysiert werden, was Sprache aus systemtheoretischer Sicht darstellt. Es ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Phonemen, die akustisch aus Formanten bestehen. Sprache ist in höchstem Maße sinnhaltig. Ihr Sinn ergibt sich als Erfahrungswert aus dem Kontext. Die Entstehung der Sprache als lautliches Ausdrucksmittel, der Sinnerwerb von Lauten im Verlaufe der Evolution und der Gebrauch der Sprache als Kommunikationsmittel liefern ein weites Feld für die theoretische Analyse. Erst durch den Gebrauch der Sprache wurde der Mensch zum Menschen. Daher ist die Entwicklung der Sprache ein untrennbarer Teil der Menschwerdung.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Intelligenz wurde von der Theorie der neuronalen Netze benannt: die Lernfähigkeit von Assoziativmatrizen. Der nächste Abschnitt befasst sich damit.

ISBN 978-3-00-037458-6
ISBN 978-3-00-042153-2

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan